Saarbrücker Zeitung: Kirchen/Soziales: Geißler kritisiert Zurückhaltung der Kirchen in der sozialen Frage
Saarbrücken (ots)
"Es nutzt nichts, nur fromm zu sein"
Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler kritisiert Zurückhaltung der Kirchen in der sozialen Frage
Saarbrücken (SZ). Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler hat den Kirchen vorgeworfen, zu wenig gegen die Auswüchse des "brutalen Kapitalismus" zu tun. Es nutze nichts, "nur fromm zu sein und die Hände zu falten", sagte Geißler im Gespräch mit der "Saarbrücker Zeitung" (Donnerstag). Bis heute fehle ein entscheidender Beitrag der katholischen Kirche, wie der Prozess der Globalisierung human gestaltet werden könnte. Zudem werde die Kirche ihrem Auftrag der geistigen Führung nicht hinreichend gerecht. Geißler äußerte die Hoffnung, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel den "neoliberalen Kurs verlässt und den Menschen wieder eine Hoffnung gibt".
Das Interview im Wortlaut:
Frage: Herr Geißler, was ist aus Ihrem "Wutanfall" geworden? Im November 2004 haben Sie einen Aufsatz mit dem Titel "Wo bleibt Euer Aufschrei?" geschrieben, in dem Sie die Gier der Manager und die Anarchie der globalen Wirtschaft geißelten. Hatte das Werk eine Wirkung?
Geißler: Sicher unabhängig von mir hat der Papst in seiner letzten Enzyklika endlich das getan, was sein Vorgänger letztmals vor 12 Jahren tat: Er hat die geltende Wirtschaftsordnung in Frage gestellt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dieser Tage gesagt, dass der internationale Kapitalmarkt geordnet werden müsse.
Frage: Kardinal Lehmann meint, "wahre Religion" müsse "den Finger in die Wunden der Zeit" legen. Ein schöner Satz, aber können Sie erkennen, dass die Kirchen den Finger in die Wunden der deutschen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik legen?
Geißler: Die Kirchen haben die Aufgabe der geistigen Führung, aber auch der praktischen Nächstenliebe durch Diakonie und Caritas. In der geistigen Führung wird die Kirche ihrem Auftrag nur bedingt gerecht. Das letzte Sozialwort der deutschen Bischofskonferenz etwa gibt die falsche Richtung vor. Es trägt den Titel: "Das Soziale neu denken". Man kann aber Nächstenliebe nicht neu denken. Umgekehrt ist es richtig: "Das Neue sozial denken". Das heißt, wir müssen den unaufhaltsamen Prozess der Globalisierung human gestalten. Dazu fehlt bis heute ein konkreter Beitrag der katholischen Kirche.
Frage: Nach einer neuen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gelten 16 Prozent der Bundesbürger als arm. Jedes siebte Kind lebt auf Sozialhilfe-Niveau, die Zahl der Arbeitslosen verharrt bei fünf Millionen. Was läuft da schief im Staate Bundesrepublik?
Geißler: Es fehlt die richtige wirtschaftspolitische Konzeption. Wir werden von einer Wirtschaftsphilosophie beherscht, die man als Markt-Radikalismus bezeichnen muss. Sie geht davon aus, dass der Markt alles regelt und Gerechtigkeit herstellt. Das ist ein grober Denkfehler. Die Dinge sind auf den Kopf gestellt: Das Kapital an sich ist ja nicht schlecht, aber es hat den Menschen zu dienen. Heute ist es umgekehrt.
Frage: Was würde Jesus dazu sagen?
Geißler: Jesus hat den Mammon ja nicht abgeschafft, aber er hat ihm eine andere Wertigkeit gegeben. Das kapitalistische Wirtschaftssystem reduzdiert den Menschen zum Kostenfaktor und geht über Leichen. Gegen diese brutale Form des Kapitalismus müssten die Kirchen viel lautstärker Stellung beziehen. Es nützt nichts, nur fromm zu sein und die Hände zu falten.
Frage: Wenn man Ihre Sozialthesen hört, wird man an den SPD-Linken Ottmar Schreiner oder auch an Oskar Lafontaine erinnert. Sind Sie ein Linker geworden?
Geißler: Mich stört nicht, wer mir Recht gibt. Es kommt auf die geistigen Grundlagen an. Was Lafontaine betrifft: Vieles was er sagt, ist absolut richtig. Es war ein schwerer Fehler, dass die Sozialdemokraten ihren besten Mann ins Messer laufen ließen, wie Kanzler Gerhard Schröder das 1999 gemacht hat. Davon hat sich die SPD bis heute nicht erholt. Ohne Leute wie Lafontaine und Schreiner, der ja auch lange Jahre nichts mehr zu sagen hatte in der Partei, hat sich die neoliberale Philosophie in der SPD durchgesetzt. Mit der Agenda 2010 hat die SPD ihre Seele verraten. Frage: Der Kommunismus ist tot, selbst in China. Welche Idee könnte denn an seine Stelle treten, oder hat der Kapitalismus jetzt auf ewige Zeiten freie Bahn? Geißler: Wenn das kapitalistische System nicht ersetzt word durch eine sozial-ökologische Marktwirtschaft, die den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt, werden wir in einen globalen revolutionären Prozess hinein steuern. Der Terrorismus wird in großen Teilen gespeist durch die sozialen Diskrepanzen auf der Erde. Die globale Wirtschaft ist eine Welt der Anarchie, ohne Regeln, ohne sozialen Übereinkünfte. Dadurch wird die Kluft zwischen arm und reich immer größer.
Frage: Glauben Sie, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Problematik erkennen kann, dass Sie die richtige Person ist, um möglicherweise gegenzusteuern?
Geißler: Merkels letzte Äußerungen deuten zumindest darauf hin, dass sie den neoliberalen Kurs, der ja bei der Bundestagswahl zu dem Stimmenverlust der Union geführt hat, verlässt. Es wäre sehr zu wünschen, wenn sie an einer Neukonzeption arbeiten würde, auch um den Menschen wieder eine Hoffnung zu geben, was auch konjunkturpolitisch von großer Bedeutung ist. Denn die Kaufzurückhaltung ist eben auf die Unsicherheit zurück zu führen, die die Menschen erfasst hat weil sie verzweifelt sind über die Unfähigkeit der politischen, wissenschaftlichen und publizistischen Eliten, diesen Globalisierungsprozess human zu gestalten.
Das Gespräch führte Bernard Bernarding
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