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Mittelbayerische Zeitung: Radioaktiver Tee Leitartikel zur Atomkatastrophe in Fukushima vor sechs Monaten

Regensburg (ots)

Sechs Monate sind vergangen, seit in Japan die Erde bebte. Seit ein Tsunami ganze Küstenabschnitte verwüstete und mit dem Super-GAU im Atomkraftwerk Fukushima der Alptraum aller Industrienationen Wirklichkeit wurde. Mehr als 15 000 Menschen verloren bei der Katastrophe ihr Leben, 80 000 hausen noch heute in Notunterkünften, mit wenig Hoffnung, jemals in ihre Häuser zurückkehren zu können. Der 11. März 2011 hat Japan verändert. Manchmal nur im Kleinen: Der Angestellte, dessen Großraumbüro im heißen Tokioter Sommer sonst auf angenehme 22 Grad gekühlt wurde, schwitzt nun bei 28 Grad. Getränkeautomaten liefern Saft nicht mehr eiskalt, sondern nur noch kühl, einige Firmen lassen am Wochenende arbeiten, um die Spitzenzeiten im Stromverbrauch zu vermeiden. Strom, das ist eine Lehre aus Fukushima, ist eine Ressource, deren billige Herstellung teuer bezahlt werden muss. Wie teuer genau ist noch immer schwer abzuschätzen. Die 30-Kilometer-Sperrzone rund um das havarierte Kraftwerk bleibt evakuiert, doch dass das ausreicht, bezweifeln Experten: Die winzigen radioaktiven Partikel hätten sich nicht ringförmig um das AKW verteilt, sondern seien vom Wind weit verstreut worden. Reisbauern, deren Felder 60 Kilometer entfernt vom Reaktor liegen, berichten von erhöhten Strahlungswerten, sogar im Tee aus dem 350 Kilometer entfernten Shizuoka ist Radioaktivität nachgewiesen worden. Und belastetes Rindfleisch ist landesweit in die Supermarktregale gelangt. Reis, Tee, Rindfleisch und auch der Fisch, all die unverzichtbaren Zutaten der einzigartigen japanischen Küche, sie sind unter Generalverdacht geraten. Die japanischen Konsumenten, seit jeher kritisch, haben das Vertrauen in das Gütesiegel "Japanisches Produkt" verloren - mit unabsehbaren Folgen für die Landwirtschaft. Und die Behörden zeigen sich überfordert: Es gibt schlichtweg keine Präzedenzfälle, wie mit den Folgen der Havarie umzugehen ist - weltweit, denn auch Tschernobyl ist nur begrenzt vergleichbar mit Fukushima. Da hilft es nicht, dass die notorisch zerstrittenen Parteien in Tokio sich nach einem kurzen Burgfrieden nach dem Unglück schon bald wieder in politischen Ränkespielen aufrieben, bis hin zum Misstrauensvotum gegen den Premierminister. Drei Monate dauerte es, bis ein Gesetz zum Wiederaufbau der Katastrophenregionen verabschiedet war, erst Ende August einigte man sich auf ein Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien: Regierungschef Naoto Kan hatte es als Bedingung für seinen Rücktritt gefordert. Dieser Rücktritt wiederum ist kein politischer Neuanfang, sondern nur die Konsequenz aus den miserablen Umfragewerten des Premiers, der es nicht schaffte, dringend notwendige Reformen anzugehen: Die Schulden Japans betragen mittlerweile 220 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, konkrete Pläne zur Haushaltskonsolidierung fehlen. Gleichzeitig ächzt die Wirtschaft auch ohne die Folgen der Märzkatastrophe - dem Zusammenbruch ganzer Lieferketten und den Engpässen in der Stromversorgung - unter der Weltwirtschaftskrise, das Bruttoinlandsprodukt schrumpft nun schon das dritte Quartal in Folge. Ein halbes Jahr nach der Katastrophe überschattet Unsicherheit das Leben der Menschen in Japan. Undenkbares ist plötzlich denkbar geworden. Das allerdings auch im positiven Sinn: In dem Land, das lange den Ausbau der Atomenergie als Zaubermittel des Klimaschutzes feierte, sind heute nur noch ein Bruchteil der 52 Kernreaktoren am Netz, der Rest soll erst nach umfassenden Stresstests wieder in Betrieb genommen werden. Noch ist "Ausstieg" ein Tabuwort. Aber der Ausbau der alternativen Energien ist in den Fokus der Politik gerückt. Und wenigstens das kann Hoffnung machen.

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