Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zu den anstehenden Wahlen am Wochenende:Zeitenwende
Regensburg (ots)
Es gab einmal eine Zeit, da war alles einfach. Die Unionsparteien konnten mit der FDP eine stabile Koalition gründen. In diese Zeit gehörte auch, dass Deutschland und Frankreich als Motor im Kampf gegen eine Krise auftraten, die immer größer wurde, je näher sie rückte. Diese Zeit ist vorbei. Die Zeitenwende wird an diesem Wochenende eingeläutet werden, wenn Nicolas Sarkozy in Frankreich abgewählt wird, und sie wird sich hinziehen bis zum Herbst 2013, wenn in Deutschland der Bundestag gewählt wird. Dann zeigt sich auch, wie sehr sich die Parteienlandschaft ändert, wie groß das Stück vom Kuchen ist, das die Piraten abbekommen - und wie viel sie den Liberalen, den Grünen und der SDP übrig lassen. Einen Vorgeschmack darauf, wie bunt die künftigen Koalitionen werden können, gibt es wahrscheinlich am Sonntag bei der Landtagswahl in Kiel. Fest steht, dass die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Wahl in Schleswig-Holstein und nach der in Nordrhein-Westfalen eine Woche darauf endgültig erkennen dürfte, dass ihr Koalitionspartner FDP keine Zukunftsoption mehr sein kann. Vier Prozent holen die Liberalen derzeit, ihr Vorsitzender Philipp Rösler ist ein Jahr nach Amtsantritt der unbeliebteste deutsche Politiker. Seine Tage sind gezählt, auch wenn seine Partei es mit einer Mischung aus Mitleid und Christian-Linder- und Wolfgang-Kubicki-Effekt schafft, im Norden und im bevölkerungsreichsten Bundesland nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Denn dann muss der Parteichef damit leben, dass Linder und Kubicki mit der Nachricht hausieren gehen, "trotz Rösler" einen Sieg geholt zu haben. Stürzt Rösler, wird seine ohnehin in einer Sinnkrise befindliche Partei nur ein Jahr Zeit haben, sich neu aufzustellen. Merkel wird dann aber ohne sie planen. Eine Zeitenwende deutet sich aber auch in Europa an, und auch dort wird für die Kanzlerin nichts mehr so sein, wie es bislang war - und nicht nur für sie. Frankreich steht vor einem Regierungswechsel am Sonntag. Selbst wenn Merkel angesichts der Umfragen von ihrer ablehnenden Haltung gegenüber François Hollande abrückt und nun verlauten lässt, sie hätte keine Angst vor einer Zusammenarbeit mit dem Sozialisten, so wird ein anderer Wind aus Westen wehen, wenn er Präsident ist. Frankreich steht am finanziellen Abgrund und Hollande hat Wahlversprechen zu erfüllen, die mit einem harten Sparkurs nicht vereinbar sind. Und er hat mit der Tatsache zu kämpfen, dass jeder fünfte Wähler in seinem Land im ersten Wahlgang rechtsnational - und damit anti-europäisch - gewählt hat. Der andere Verbündete der Kanzlerin, die Niederlande, hat ebenfalls ein Problem von rechts, weil der Rechtsnationale Geert Wilders die von ihm geduldete Regierung hat platzen lassen - in der nicht unbegründeten Hoffnung, dass sein Anti-Europa-Kurs ihm bei der Neuwahl zum Sieg verhelfen könnte. Und dann ist da noch der große Unbekannte Griechenland. Der Ausgang der Parlamentswahl am Sonntag gleicht der Unsicherheit einer Partie Roulette. 32 Parteien treten an, zehn davon haben echte Chancen - und die meisten eint mit den Wählern die Abneigung gegen den drastischen Sparkurs, den die EU dem vor der Pleite stehenden Land diktiert hat. Die politische Landkarte, hierzulande wie in Europa, wird sich massiv verändern in den kommenden Wochen und Monaten. Der politische Kompass ebenso. Für Deutschland bedeutet das vor allem, dass es schwieriger wird, Mehrheiten zu bekommen - im Innern wie international. Der um sich greifende Erfolg der Populisten am rechten Rand wird Europa in den kommenden Jahren vor Herausforderungen stellen, an denen sich auch die Zukunft der Europäischen Idee entscheiden könnte. Regierungschefs allerorten haben vergessen, ihren Wählern Europa zu erklären und sie damit in die Arme rechtsnationaler Rattenfänger getrieben. Es ist eher Glück denn Geschick, dass dies in Deutschland noch nicht der Fall ist. Autor: Christian Kucznierz
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