Mittelbayerische Zeitung: Der lange Abschied von Europa
Regensburg (ots)
Von Jochen Wittmann
Hand aufs Herz: Wie hältst du's mit Europa? Wer dieser Tage David Cameron mit der Gretchenfrage konfrontiert, bekommt offiziell die Antwort: Wir wollen in der EU bleiben. Aber inoffiziell spielt der britische Premierminister mit dem Austritt. Cameron ist Realist genug zu wissen, dass ein britischer Ausstieg einem ökonomischen und machtpolitischen Desaster gleichkäme. Andererseits ist er der Chef der Konservativen Partei. Und die ist tief zerrissen in der Europa-Frage. Früher, zu Zeiten seines Vorgängers John Major, war die Partei gespalten zwischen Euroskeptikern und Pro-Europäern. Heute liegt der Schwerpunkt weiter rechts: Pro-Europäer gibt es nur noch in der Form von Tory-Dinosauriern wie Michael Heseltine oder Kenneth Clarke. Die Demarkationslinie verläuft zwischen Konservativen, die mit dem bisherigen Arrangement unzufrieden sind und das Verhältnis zur EU neu verhandeln wollen, und Torys, die lieber heute als morgen raus möchten. Die Gruppen sind etwa gleich groß, aber die erste Gruppe stellt die Regierung, während die Euro-Phoben meist auf den Hinterbänken sitzen. Wenn es um Europa geht, werden manche Torys zu Fundamentalisten. Seit den Maastricht-Verträgen vor 20 Jahren wirkt das Thema als der große Spaltpilz in der Partei. Ein Schuss Irrationalität beherrscht die Debatten. Obsession ist auch dabei. Ansonsten vernünftige Abgeordnete erklären Großbritanniens Abschied von Europa zur nationalen Überlebensfrage. Man wähnt sich im Einklang mit der Volksmeinung. Einerseits stimmt das: In einer kürzlichen Umfrage sprachen sich 56 Prozent der Befragten für einen Austritt aus der EU aus. Man vergisst aber: Auf der Prioritätenliste der Bürger steht Europa weit unten, viel wichtiger sind ihnen Themen wie Jobkrise, staatliche Ausgabenkürzungen oder Immigration. Als die Torys 2001 Europa zum Wahlkampfthema machten, wurden sie an den Urnen gnadenlos abgestraft. Cameron weiß das alles, aber er hat es mit einer Fraktion zu tun, die zur Rebellion bereit ist. So spielt der Premierminister wider besseren Wissens mit dem Feuer: Er wird seinen Hinterbänklern ein Referendum in Aussicht stellen. Im neuen Jahr, so munkelt man im Regierungsviertel Whitehall, will David Cameron eine Grundsatzrede über Europa halten. Darin wird er argumentieren, dass Großbritannien aus der EU zwar nicht austreten, aber ein neues Verhältnis zu ihr haben will. Im Klartext: Der Premier will nationale Kompetenzen von der EU zurückfordern. Besonders in den Bereichen Sozialpolitik und Arbeitsmarkt soll London und nicht Brüssel das Sagen haben. Das läuft auf nichts weniger als eine Nachverhandlung bestehender EU-Verträge hinaus. Großbritannien verlangt ein 'Europa à la carte'. Inwieweit hier die EU-Partner dem Königreich entgegen kommen wollen, ist völlig unklar. Cameron will, so sieht im Moment der Plan aus, das Ergebnis der Verhandlungen über die 'Repatriierung von Souveränität' zum Gegenstand eines Volksentscheids machen. Also erklärtermaßen kein Raus-Rein-Referendum, sondern eines darüber, ob die Briten mit dem neuen Arrangement leben könnten. Aber genau hier wird es gefährlich. Der Premier setzt eine riskante Dynamik in Gang. Denn zum einen ist fraglich, ob die EU-Partner Großbritannien eine Sonderwurst braten wollen. Hat es derer doch schon genug: Schengen, Euro, Fiskalunion sind alles Bereiche, in denen die Briten nicht mitmachen. Zum anderen sind die Hardliner unter den Euroskeptikern nicht satt zu bekommen: Außer einem knallharten Austritt wird sie nichts befrieden. Ein Referendum über Großbritanniens künftiges Verhältnis zur EU hätte angesichts einer gleichgültig bis feindlich eingestellten Öffentlichkeit kaum Aussichten auf Erfolg. Die logische Folge: Das Volk nochmals befragen, ob es überhaupt noch dazugehören will. Dann wäre man wirklich nur einen Schritt vorm endgültigen Abschied.
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