Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Boston
Regensburg (ots)
Neue Dimension des Terrors
Was in Boston geschehen ist, macht Angst. Denn auf dem Radar hatten die Behörden die Täter nicht.
Von Renzo Ruf, MZ
Die schlimmsten Befürchtungen amerikanischer Terrorismusexperten haben sich in Boston verwirklicht: Mit simplen Mitteln ist es zwei bisher unauffälligen Männern gelungen, eine Metropole stundenlang im Würgegriff zu halten. Sie brachten das Leben in einer pulsierenden Großstadt abrupt zum Stillstand, Hunderttausende von Bewohnern wurden ultimativ aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen, und Boston verwandelte sich - buchstäblich über Nacht - in eine militärische Festung. Absurderweise erreichten die Terroristen so ihr Ziel: Ein Land schaute auf Boston, aus Angst um Angehörige und Freunde, aber auch wegen der Großfahndung, die selbst in der Geschichte Amerikas wohl ohne Beispiel ist. Vor einem solchen Szenario haben die Behörden schon lange gewarnt: Junge Männer, die sich jahrelang als vorbildhafte Staatsbürger benehmen oder zumindest ihrem Umfeld nicht negativ auffallen - und dann zu Terroristen werden. Nicht ohne Grund nennen die Experten solche Extremisten "Lone Wolf", Einzelgänger. Häufig wurden diese Männer im Ausland geboren, und sie kommen mit den Besonderheiten ihrer Wahlheimat nicht zurecht - oder sie finden die Widersprüche zwischen ihrer traditionellen Erziehung und dem neuen Umfeld schlicht unerträglich, auch als religiösen Gründen. Dies führt zu einer Radikalisierung, die im schlimmsten (und seltensten) Fall zu einer Kontaktaufnahme mit extremistischen Organisationen führen kann. Dort erhalten diese Neo-Terroristen ideelle und organisatorische Unterstützung. Wohlverstanden: Dieses Abgleiten in den Radikalismus ist nicht vorbestimmt. Die USA haben, wie wohl kein anderes Land auf dieser Welt, in den vergangenen zwei Jahrhunderten bewiesen, dass sie Einwanderer mit offenen Armen aufnehmen. Andererseits gibt es selbstverständlich auch in Amerika latenten Rassismus, Vorbehalte gegen Ausländer, und es kommt auch immer zu religiös motivierten Übergriffen. Das musste vor fünf Jahren selbst Barack Obama zur Kenntnis nehmen. Über den späteren Präsidenten kursierte im Wahlkampf eine Flüsterkampagne über seine Religion. Andererseits gab es gestern, wenigstens bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe, keinen Hinweis darauf, dass die beiden jungen Terroristen - und ihre allfälligen Komplizen - Teil eines größeren Netzes waren. Auch lag ihr Motiv im Dunkeln: Weder hatten die Brüder ein Manifest veröffentlicht noch waren sie in einschlägigen Internet-Foren aufgefallen. Dies hielt die Öffentlichkeit natürlich nicht davon ab, munter über die Hintergründe zu spekulieren, auch mit einem Verweis darauf, dass die Terroristen aus dem russischen Kaukasus stammten. Solche Spekulationen sind menschlich. Hilfreich sind sie aber nicht. Es gibt derzeit schlicht keine Hinweise, dass es sich bei den Brüdern um tschetschenische Unabhängigkeitskämpfer handelte. Und selbst wenn dies der Fall wäre: Welches Zeichen sie gerade in Boston, bei einem Marathon, setzen wollten, wäre damit immer noch unklar. Klar ist bloß: Auf dem Radar der Behörden waren die beiden gewalttätigen Brüder, die ohne mit der Wimper zu zucken Menschen töteten, bisher nicht erschienen. Und anscheinend waren sich die Sicherheitskräfte bis am Mittwoch nicht bewusst, wie gefährlich die beiden waren - sonst hätte wohl Präsident Obama nicht am Gedenkgottesdienst für die Opfer des Anschlags auf den Marathon in Boston teilgenommen. Das macht Angst.
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