Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Reinhard Zweigler zur Datenaffäre
Regensburg (ots)
Einfach mal alles abschalten? Mal keine E-Mails mehr, keine Twitter- oder Facebook-Botschaften, die ohnehin viel zu oft Datenmüll oder belangloses Gezwitscher sind? Der Datenskandal des US-Geheimdienstes NSA führt zu den seltsamsten Reaktionen. Politiker entdecken die Abhörsicherheit von persönlichen Gesprächen auf Spaziergängen neu. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger räsoniert darüber, dass man am Telefon ohnehin nicht immer Klartext reden sollte, weil Big Brother mithören und aufzeichnen könnte. Der russische Geheimdienst geht allen Ernstes wieder dazu über, brisante Schreiben auf "abhörsicheren" Schreibmaschinen deutscher Bauart tippen zu lassen. In der einstigen US-Kultserie "Kobra, übernehmen Sie!" vernichtete sich das Tonband mit dem geheimen Auftrag nach fünf Sekunden selbst. Das ist lange her. Die grenzenlose und ständige Erreichbarkeit der modernen Kommunikationsmedien von heute hat die Illusion ins Kraut schießen lassen, das Gesagte und Gesendete sei vor dem Zugriff Dritter sicher. Wir hätten wissen müssen, dass dem nicht so ist. Jeder Mausklick in die globale Datenwelt hinterlässt Spuren. Die Horror-Visionen von George Orwell lesen sich wie Grimms Märchen angesichts der technischen Möglichkeiten, mit denen heutzutage Geheimdienste, nicht nur die NSA, im riesigen Datenmeer abfischen. Seit Edward Snowden NSA-Abhör- und Überwachungspraktiken öffentlich machte, tobt eine heftige Debatte über Sinn und Grenzen solcher Ausspäherei, über das Verhältnis von Sicherheit der Daten, aber auch vor Terrorangriffen. Es stoßen Grundrechte hart aufeinander, etwa das Post- und Fernmeldegeheimnis und die informationelle Selbstbestimmung mit jenem nach Schutz des Lebens. Die fundamentale Position, "meine Daten gehören mir - und zwar nur mir!", stößt sich am - im Kern berechtigten - Bestreben von Sicherheitsdiensten, möglichst alles zu wissen, was in den täglich wachsenden Datenstrom eingegeben wird. Wenn jetzt die liberale Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sowie ihre CSU-Verbraucherschutzkollegin Ilse Aigner unisono ein weltweites Datenschutzübereinkommen fordern, dann ist das zwar politisch korrekt und geradezu rührend, aber zugleich auch reichlich naiv. Ja, glauben die beiden Ministerinnen wirklich, dass sich US-Dienste, russischer KGB, israelischer Mossad oder die Geheimdienste vom Iran bis Nordkorea von einem solchen, ganz sicher gut gemeinten Abkommen beeindrucken lassen werden? Das ist nicht zu erwarten. Hinzu kommt, dass auch Internet-Riesen wie Facebook oder Google willige Helfer der Ausspäh-Dienste sind. Dass Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich nach seinem Erkundungsbesuch in Washington von der rot-grünen Opposition in Deutschland geprügelt und verspottet wird, ist ziemliches Wahlkampfgetöse. Auch zu rot-grünen Regierungszeiten hat es die NSA-Ausspähaktionen gegeben; mit mehr oder weniger großer Tolerierung durchs Kanzleramt und mit kräftiger Unterstützung durch den Bundesnachrichtendienst. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Doch auch die Union ist in diesen Fragen alles andere als homogen. Während CSU-Granden wie Seehofer und Aigner lautstark und populistisch den Abschied von der Vorratsdatenspeicherung ausrufen, hält Friedrich vehement an den Plänen fest. Die CSU bekommt spielend das Kunststück hin, sowohl für als auch gegen die Internet-Überwachung zu sein. US-Dienste und -Administration dürften blass werden angesichts solcher Wendigkeit.
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