Mittelbayerische Zeitung: Hartz IV für alle?
Europa braucht soziale Grundstandards und Deutschland Zuwanderung, statt polemischer Kampagnen. Leitartikel von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin Nachtigall, sagt ein norddeutsches Sprichwort. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II zu beziehen, im Volksmund Hartz IV, ist für betroffene Deutsche nicht gerade erstrebenswert, also eher die Eule. Für Menschen aus anderen Ländern jedoch, die von einer solchen Grundsicherung nur träumen können, ist Hartz IV gewissermaßen die Nachtigall. Insofern dürfte das anstehende Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im Fall einer 24-jährigen Rumänin, die in Leipzig lebt, aber hier offenbar noch nie gearbeitet hat, von großer Bedeutung sein. Es geht in dem Verfahren um die Frage, ob EU-Bürger in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen haben oder nicht. Also Hartz für alle? Das Thema ist hochemotional beladen und politisch äußerst brisant. Und es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet wenige Tage vor der Europawahl der Generalanwalt des EuGH erkennen lässt, dass Deutschland seine Sozialleistungen bestimmten EU-Bürgern durchaus verweigern kann. Auf der anderen Seite hat die Bundesregierung, ebenfalls kurz vor dem Urnengang am Sonntag, sein Gesetzesvorhaben gegen Sozialmissbrauch durch Ausländer "durchgestochen", also in die Öffentlichkeit lanciert, ehe das Gesetz überhaupt vernünftig abgestimmt werden konnte. Nach dem, was bislang zu hören ist, will Berlin Härte zeigen gegen Sozialmissbrauch durch Ausländer. Es drohen harte Strafen, wie Abschiebung, Einreiseverbot, Haft oder Geldbußen. Es wird die harte Linie fortgeschrieben, die im Grunde auch gegen deutsche Hartz-IV-Bezieher gefahren wird. Allerdings ist das heftige Eindreschen auf ausländische Sozialbetrüger, die es sicher auch gibt und gegen die vorgegangen werden muss, äußerst einseitig und zudem wahltaktisch motiviert. Das Motto der CSU, "Wer betrügt, der fliegt", ist zwar stammtischmäßig griffig, doch es geht an dem in Wirklichkeit vielschichtigen Problem vorbei. Die alternde deutsche Gesellschaft ist auf der anderen Seite nämlich auf Zuwanderung dringend angewiesen. Das gilt für die Wirtschaft, die fehlende Fachkräfte beklagt. Das gilt für den Dienstleistungssektor, der ohne ausländische Mitarbeiter, vielerorts ins Schlingern geriete. Das gilt für unsere Sozialsysteme, denen die Beitragszahler wegbrechen. Viel zu kurz kommt in der aufgeregten Debatte die Tatsache, dass Ausländer viel mehr zur Wirtschafts- und Steuerkraft Deutschlands beitragen, als sie aus unseren Sozialsystemen beziehen. Und um die Wanderung in andere Sozialsysteme zu verhindern, braucht Europa soziale Grundstandards. Die Europäische Union der offenen Grenzen, der Freizügigkeit und des freien Warenverkehrs braucht dringend ihre soziale Erweiterung. Und Deutschland benötigt ein nach vorn gerichtetes Konzept für mehr Zuwanderung. Die jetzigen polemischen Abwehrschlachten in Sachen "Armutszuwanderung" sind eher kleinkariert, sind von gestern. Freilich kann sich die CSU nun erst einmal bestätigt fühlen. Die von ihr vom Zaune gebrochene Debatte um "Sozialschmarotzer" aus Rumänien oder Bulgarien zeitigt vordergründig gesetzgeberische Konsequenzen. Die Frage ist nur, ob die CSU mit ihren flotten Parolen langfristig nicht eher das Geschäft der Europa-Kritiker von der AfD besorgt? Oder sogar Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen schüttet?
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