Mittelbayerische Zeitung: Wer Kinder hat, fühlt sich und seine Leistung für die Gesellschaft selten gewürdigt. Das muss sich ändern. Leitartikel von Katia Meyer-Tien
Regensburg (ots)
Im Grunde war es eine rasante Entwicklung. Gerade mal etwas mehr als 100 Jahre ist es her, dass Soziologen das Konzept der Kindheit zu denken begannen. Dass die Gesellschaft zu verstehen begann, dass Kinder mehr sind als kleine Erwachsene, dass sie Freiräume ebenso brauchen wie Betreuung, Förderung ebenso wie kreativen Spielraum. Die Kindheit war nicht mehr Vorbereitung auf das erwachsene Erwerbsleben, sondern ein schützenswerter Lebensabschnitt an sich. Viel hat sich seither verändert. Im Wechselspiel mit den Anforderungen der industrialisierten Arbeitswelt und den gesellschaftlichen Wert- und Moralvorstellungen wurden Kinder ganztags institutionell betreut oder nur von der Mutter, war mal das Ernährermodell und mal das Doppelverdienermodell der Idealfall im Familienleben. Heute haben wir ein ausdifferenziertes institutionelles Betreuungs- und Fördersystem von der Krippe bis zum Hort, von der Frühförderung über die Hauptschule bis zum Gymnasium. Dass dabei von politischer Seite in den letzten Jahren gerade im Bereich der frühkindlichen Betreuung enorme Anstrengungen unternommen worden sind, ist unbestritten. Auch die im neuesten Familienreport Bayern veröffentlichten Zahlen zeigen dies deutlich: Waren es im Jahr 2007 in Bayern noch knapp 33 000 Kinder unter drei Jahren, die in Kindertageseinrichtungen oder Tagespflege betreut wurden, so waren es im Jahr 2013 mit fast 89 000 schon weit mehr als doppelt so viele. Das große Ziel, das hinter diesem Kraftakt steht, ist die Wahlfreiheit für Familien. Zum ersten Mal überhaupt haben wir die absolute Individualität zur Maxime gemacht. Wer arbeiten will, soll arbeiten können. Wer sich - zeitweise oder ganz - der Kinderbetreuung widmen will, soll das können. Und das auch noch unabhängig von Geschlecht, Alter oder Beruf. So viel Gleichberechtigung treibt - wie beim jüngst eingeführten Betreuungsgeld - manch seltsame Blüte, die allzu oft nach Förderung nach dem Gießkannenprinzip aussieht. Und wirft die Frage auf: Soll und kann Politik das überhaupt leisten? Alle Lebensentwürfe nicht nur gleich achten, sondern auch gleich fördern und so die perfekte Wahlfreiheit schaffen? Dass die Antwort auf diese Frage eher nein lautet, zeigt eine andere Zahl aus dem jüngsten Familienreport: nur 27,9 Prozent aller befragten bayerischen Eltern geben an, dass sich für sie Familie und Beruf gut vereinbaren lassen. Für die überwiegende Mehrheit, nämlich 62,3 Prozent, sind Energie und Geschick notwendig, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Solange es aber schwieriger ist, Familie und Beruf zu vereinbaren als "nur" daheim zu bleiben oder "nur" zu arbeiten, solange bleibt die propagierte Wahlfreiheit Makulatur. Daran kann die Politik nur sehr begrenzt etwas ändern. Ja, sie muss den Rahmen schaffen. Qualitativ hochwertige, bezahlbare und zeitlich flexible Betreuungsplätze für Kinder aller Altersgruppen müssen eine Selbstverständlichkeit werden. Das ist noch ein weiter Weg. Doch daran, dass Kinder auch mal krank werden, dass durchwachte Nächte, niemals schrumpfende Wäscheberge oder Schulsorgen zeitweise die Leistungsfähigkeit von Eltern am Arbeitsplatz einschränken können, daran kann auch die beste Familienpolitik nichts ändern. Und wieder ist es eine Zahl aus dem jüngsten Report, die einen Hinweis darauf gibt, was sich ändern muss, wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Wahlfreiheit für alle: Nur 44 Prozent aller Eltern haben das Gefühl, dass ihre Leistung von der Gesellschaft wertgeschätzt wird. Es war Anfang des 20sten Jahrhunderts, dass wir begonnen haben zu verstehen, wie wichtig die Kindheit für die Menschwerdung ist. Vielleicht ist es 100 Jahre später Zeit zu verstehen, wie wichtig die Familien für die Gesellschaft sind.
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