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Mittelbayerische Zeitung: Die Gretchenfrage - Pressefreiheit gibt es nur in einer funktionierenden Demokratie. Auf beides muss man achtgeben. Von Claudia Bockholt

Regensburg (ots)

Rang 16 und 151: Welten liegen zwischen Deutschland und der Türkei auf dem aktuellen Pressefreiheits-Index, soeben vorgelegt von "Reporter ohne Grenzen". Dieses Rankings hätte es gar nicht mehr bedurft nach dem zornigen Streit um Jan Böhmermanns Spott-Gedicht. Man mag zu dem TV-Talker und seiner Satire stehen wie man will: Er hat die Gretchenfrage gestellt. Wie halten wir's mit der Freiheit der Meinung, der Rede, der Presse, der Kunst? Steht sie als schützenswertes Gut über allem? Oder geben wir sie eilfertig dran, weil ein Autokrat die Faust Richtung Europa ballt - wenn er uns nur die Flüchtlinge vom Leib hält. In den vergangenen 15 Jahren ist die Türkei im Pressefreiheits-Ranking von Rang 100 stetig nach unten geklettert. Rund 2000 Strafanzeigen hat Erdogan gegen Journalisten, Intellektuelle, Schriftsteller und Oppositionelle gestellt. Das Auswärtige Amt rät Reisenden derzeit "dringend davon ab, in der Öffentlichkeit politische Äußerungen gegen den türkischen Staat zu machen". Einige deutsche Journalisten stehen auf einer schwarzen Liste und dürfen am Bosporus nicht mehr arbeiten. Nur noch 28 Plätze trennen die Türkei von Nordkorea. Deutschland ist gegenüber 2015 um vier Plätze abgerutscht und findet sich jetzt in exotischer Nachbarschaft: zwischen Luxemburg und Namibia. Der Downgrade ist eine schmerzliche Entwicklung. Dass Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden sei, schien hierzulande schon zur Binse geworden. Doch mit der Krim-Krise und danach der Flüchtlingswelle trat überraschend wuchtig zu Tage, dass nicht alle Deutschen dieses Freiheits- und Demokratieverständnis teilen. "Lügenpresse halt die Fresse": Das Wutgebrüll erscholl anfangs ausgerechnet vom Osten her, wo man die staatlich verordneten SED-Jubelorgien noch im Ohr haben könnte. Die DDR-Propaganda gegen die "kapitalistische Lügenpresse" scheint vergessen, sogar bei denen, die einst heimlich Westfernsehen guckten. Bei Pegida-Demonstrationen wurden im vergangenen Jahr Journalisten geschlagen, getreten, ihre Ausrüstung zerstört. Das zählt mit zu den Gründen, warum es um die Pressefreiheit im eigenen Land schlechter bestellt ist. Der deutsche Zeitungsmarkt ist der größte Europas und der fünftgrößte weltweit. Kaum irgendwo auf der Welt können Leser aus einer so breiten Palette wählen. Das Spektrum reicht politisch von weit links bis weit rechts, von bieder bis Boulevard, von intellektuell bis investigativ. Von einer "Gleichschaltung" der deutschen Medien zu reden ist nicht nur falsch, sondern fahrlässig. Die Vokabel stammt aus der Zeit, als in Deutschland der Boden für eine mörderische Diktatur bereitet wurde. Und "Lügenpresse" wurde nach dem 1. Weltkrieg, als es noch gegen die Presse der Feinde ging, auch von den Nazis als propagandistische Keule geschwungen, jetzt gegen das "Weltjudentum". Deutschland ist im Jahr 2016 eine funktionierende Demokratie. Publizistische Fülle ist so selbstverständlich wie das tägliche Brot. Vielleicht erfährt sie deshalb nicht die Wertschätzung, die sie verdient. Man weiß immer erst, was man hatte, wenn man es verloren hat. Noch so eine Binsenweisheit. Vielleicht muss in der Türkei erst der letzte kritische Journalist ins Gefängnis gewandert sein, bevor jeder begriffen hat, dass etwas faul ist im Staate Atatürks. In Deutschland darf gottseidank weiterhin in Leserbriefen, Leitartikeln, in Kneipen und auf der Straße gestritten und gemotzt werden. Gerade notorische Nörgler sollten gut auf unsere Demokratie aufpassen. Sie, hat der verehrte Satiriker Ephraim Kishon gesagt, "ist bekanntlich das beste politische System, weil man es ungestraft beschimpfen kann".

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