Mittelbayerische Zeitung: Raus aus der Tabuzone
Lehrer werden bedroht, Schüler gemobbt. Die Bilanz zur Kriminalität an Bayerns Schulen zeigt nur ein Stück der Realität. Von Marianne Sperb
Regensburg (ots)
Tatort Schule: Lehrkräfte brauchen ein breites Kreuz. Sie werden bedroht und verhöhnt - auch in Bayern. Internet-Einträge wie "Die fette Sau!" oder ein Sexfilmchen, in dem der Kopf der Lehrerin auf einen nackten Körper montiert ist, für jeden lange sichtbar : Solche Demütigungen halten Unterrichtende nur aus, wenn sie widerstandsfähig sind und Rückhalt bekommen. Tatort Schule: Kinder und Jugendliche werden bloßgestellt, angegriffen, verletzt, bis an den Rand der Zerrüttung getrieben - auch in Bayern. Sie brauchen erst recht Schutz vor Gewalt. Speziell Cybermobbing hinterlässt tiefe Narben in der Seele. Junge Menschen haben keine Angst vor Schlägen in der Schule; vor psychischer Gewalt und Mobbing schon, schildert Konstanze Frauendorfer, Bezirksschülersprecherin der Oberpfalz. Die neue Bilanz für Bayern, die Vertreter von Polizei, Schule, Justiz- und Kultusministerium in Regensburg vorstellten, erzählt von einer anderen Realität. 1,4 Straftaten pro Schule und Jahr und nur ein leichter Anstieg: Paradiesische Zustände, möchte man meinen. Und der Bayerische Elternverband sieht in "Gewalt an Schulen" kein Problemfeld. "Wir erhalten keine beunruhigenden Rückmeldungen", sagt die stellvertretende Vorsitzende Henrike Paede. Manchmal hat man den Eindruck, es existieren parallel verschiedene Welten. Man bringt sie zusammen, wenn man sich die Grundlage der vorgestellten Statistik anschaut: Erfasst ist die Kriminalitätsbelastung an Schulen, also die krassen Fälle von Körperverletzung bis zum Drogendelikt, aber nicht die vielfältigen Erscheinungsformen von Gewalt unterhalb dieser Schwelle. Und die beruhigende Fallzahl von 1,4 im Durchschnitt spiegelt natürlich keineswegs Zustände an einzelnen Häusern. Regierungsvertreter haben außerdem kein Interesse, einzelne Schularten oder gar Einrichtungen an den Pranger zu stellen. Gleichzeitig muss man ins Kalkül ziehen, dass Schulleiter in der Regel nicht erpicht darauf sind, ihr Haus öffentlich in Zusammenhang mit Gewalt zu bringen, und Anzeigen scheuen. Und: Auch Eltern meiden den Gang zur Polizei- weil sie ihr Kind nicht Gerede und Ermittlungen aussetzen wollen, weil sie den Gruppenstatus von Sohn oder Tochter nicht gefährden möchten. So arbeiten verschiedene Seiten aus verschiedenen und durchaus nachvollziehbaren Gründen an einer konstruierten Realität. Sechs Wochen vor der Landtagswahl kommt noch ein weiteres Motiv hinzu. Die Botschaft "Bayerns Schulen sind sicher", gepaart mit der Ankündigung von Präventionsmaßnahmen und der Aussage "Wir tun viel dafür, dass die Lage friedlich bleibt", ist wie dem Lehrbuch entnommen, Kapitel: Wie gewinne ich die Wählergunst? Wie hole ich Stimmen für eine Partei, die Sicherheit zum Markenkern zählt? Trotzdem: Der Runde Tisch in Regensburg bedeutet einen guten und wichtigen Schritt. Wenn der Kampf gegen Gewalt an Schulen auf der öffentlichen Agenda steht, wird es eine Kultur von Tabuisieren und Totschweigen schwerer haben. Die 500 neuen Stellen für Schulpsychologen und Schulsozialpädagogen, die das Kultusministerium bis 2023 in Bayern schaffen will, dürften eine echte Hilfe darstellen. Mit dem Fokus auf Cybermobbing, das Gerichte künftig als neuen Qualifikationstatbestand mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren ahnden können sollen, reagiert das Justizministerium auf eine besonders üble neue Form von Verletzung. Und das Schülergericht, das nun auch in Regensburg installiert wird, klingt, nach allem, was man weiß, nach einer effizienten Maßnahme, um mit Gewalt umzugehen. Wie ernst es die Politik mit den Bekenntnissen meint, wird man sehen - nach der Wahl.
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