Herumdoktern am System
Die Grundrente kommt. Sie ist ein weiterer untauglicher Versuch der SPD, das ungeliebte schrödersche Erbe hinter sich zu lassen. Leitartikel von Heinz Gläser
Regensburg (ots)
Es liegt kein Segen auf diesem Projekt. Zuletzt grätschte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz entschieden dazwischen, als er anlässlich seines Besuchs bei Angela Merkel ein glasklares Nein zu den deutschen Plänen für eine Finanztransaktionssteuer auf Aktienkäufe formulierte. Dabei will Finanzminister Olaf Scholz aus den Einnahmen zumindest teilweise das sozialdemokratische Herzensanliegen Grundrente finanzieren. Ein EU-weiter Konsens in der Frage der sogenannten "Börsensteuer" ist jedoch nicht in Sicht. Derweil ebbt in den Reihen des Koalitionspartners CSU/CSU - und in der Opposition sowieso - der Widerstand gegen die große Sozialreform nicht ab. Schützen- und Argumentationshilfe kam ausgerechnet von der Deutschen Rentenversicherung, deren Experten massive organisatorische, verfassungsrechtliche und finanzielle Bedenken äußern. Der erwünschte Starttermin am 1. Januar 2021 wackelt, zumal kein Mensch vorherzusagen vermag, wie lange die große Koalition noch durchhält. Damit nicht genug der Gemengelage, forderte der neue SPD-Chef Norbert Walter-Borjans Nachbesserungen an der in der Regierung mühsam ausgehandelten Kompromisslösung. Und sogar der Ex-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel mäkelt am Genossen und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil herum, wenn er sagt, dass bestimmte Aspekte der Grundrente "langjährigen Beitragszahlern der Rentenversicherung unfair vorkommen dürften". Dabei sollte es doch bei der von Heil plakativ so getauften "Respektrente" genau darum gehen, mehr Fairness walten zu lassen. Menschen mit geringen Renten, die sich ein Leben lang abgerackert und mindestens 33 Jahre Beiträge entrichtet haben, sollen im Ruhestand mehr als die als Sozialleistung bei Bedürftigkeit gewährte Grundsicherung im Portemonnaie haben. Ein hehres Anliegen in Zeiten, in denen drohende Altersarmut als drängendes Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Sicherlich liegt bei dieser Frage der Teufel im Detail. Allerdings doktert das sozialdemokratische Lieblingsprojekt Grundrente abermals an einem System herum, dessen Grundlagen erodieren. Sympathien oder gar Wählerstimmen dürfte die SPD ohnehin nicht ernten, jedenfalls nicht wie erhofft auf breiter Front. Unter ihrer maßgeblichen Regierungsbeteiligung waren sowohl die Anhebung des Rentenalters als auch die Absenkung des allgemeinen Rentenniveaus beschlossen worden. Und ihre eindringlichen Appelle, privat fürs Alter vorzusorgen, konterkarierte die Regierung Schröder prompt, indem sie Betriebsrentnern die volle Beitragspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung aufbürdete. Insofern ist die "Respektrente" lediglich ein weiterer Anlauf der SPD, das ungeliebte schrödersche Erbe hinter sich zu lassen. Unausgegoren sind die Pläne außerdem, auch wenn sie schon zur Gesetzesreife gediehen sind. Hinter der praktischen Umsetzbarkeit stehen weiterhin große Fragezeichen. Eine umfassende Einkommensprüfung, wie vorgesehen, erfordert einen enormen Datenaustausch zwischen der Rentenversicherung und den Finanzämtern, wie er bislang nicht praktiziert wurde. Ob es das Millionenheer derer, die als Geringverdiener 45 Jahre und länger brav ihre Beiträge entrichtet haben und letztlich lediglich Rentenansprüche knapp über der Grundsicherung erworben haben, die "Respektrente" fair finden werden, steht dahin. Sie dürften sie eher als Zeichen mangelnden Respekts vor ihrer persönlichen Lebensleistung deuten. Die Grundrente, so sie denn wie jetzt festgezurrt am Mittwoch kommender Woche im Kabinett beschlossen wird, dürfte eine der letzten Wegmarken auf dem unendlich langen Weg zu einer echten Reform des Rentensystems in diesem Land sein. Eine solche ist überfällig, sei es durch die seit langem diskutierte Einbeziehung von Selbstständigen und Rentnern, sei es über den Aufbau eines Staatsfonds nach norwegischem Vorbild. Der Blick ins benachbarte Ausland lehrt, dass es Alternativen zum deutschen Rentensystem gibt. Bislang gebricht es am politischen Willen und an der Durchsetzungskraft, die Systemfrage zu stellen. Doch der rasante digitale Wandel der Berufswelt wird Antworten unausweichlich machen. Andernfalls bleibt das Thema Altersarmut ein Konjunkturprogramm für Populisten.
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