Jünger, weiblicher, vielfältiger
Vor dem Bundestag stehen enorme Herausforderungen. Er sollte jedoch nicht zur Abstimmungsmaschinerie einer künftigen Ampel-Regierung werden. Von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots)
Die bundesweit noch weithin unbekannte neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas räumte gestern ein, dass sie sich für den Posten - immerhin der zweithöchste im Staate - nicht beworben und schon gar nicht danach gerissen habe. Doch die Parlamentarierin aus Duisburg habe im entscheidenden Moment Ja gesagt. Eigentlich hatte sich eine SPD-Herrenrunde auf Rolf Mützenich als neuen Parlamentspräsidenten geeinigt. Doch die Frauen in der Fraktion gingen gegen die Hinterzimmer-Entscheidung auf die Barrikaden - und setzten eine der ihren durch. Gut so.
Die bisherige SPD-Gesundheitsexpertin Bas ist in der Bundestags-Historie erst die dritte Frau an der Spitze. Nach den beiden Kämpferinnen Annemarie Renger von der SPD und der Unionspolitikerin Rita Süssmuth. Bas steht für neu erwachte Frauen-Power und zugleich dafür, dass das deutsche Parlament weiblicher wurde. Von der Unionsfraktion, der AfD sowieso, einmal abgesehen ist der Anteil weiblicher Abgeordneter - oder müsste es Gendersprachen-gerecht nicht Abgeordnetinnen heißen - erfreulicherweise gestiegen. Nach der ersten deutschen Kanzlerin, die der Eröffnung von der Besuchertribüne zuschaute, ist das ein gutes Zeichen für die sich endlich auch im Bundestag durchsetzende Geschlechter-Gerechtigkeit. Eigentlich müsste es völlig normal sein, dass in der Politik - so wie in der übrigen Gesellschaft - Frauen genauso wie Männer vertreten sind. So gesehen hat der neu gewählte Bundestag einen kleinen Schritt hin zur Normalität gemacht. Aber angekommen ist er dort leider noch lange nicht. Insgesamt betrachtet nahm der Frauenanteil gerade einmal um vier auf 35 Prozent zu.
Dabei ist das Parlament nicht nur etwas weiblicher, sondern auch jünger und vielfältiger geworden. Allein 95 der neuen Volksvertreter sind unter 35. Mehr Mitglieder des Bundestages haben einen Migrationshintergrund, wie es im Behördendeutsch heißt. Das bedeutet, sie selbst oder ihre Eltern, Großeltern sind aus dem Ausland nach Deutschland gekommen. Auch im Bundestag zeigt sich, ob Integration funktioniert - oder eben nicht. Wobei es völlig egal sein muss, woher ein Parlamentarier, eine Abgeordnete kommt, ob Frau oder Mann, jünger oder nicht mehr ganz so jung - entscheidend ist doch, welche Politik sie oder er macht. Und in dieser Hinsicht stehen vor diesem 20. Deutschen Bundestag so enorme Herausforderungen wie vielleicht noch nie in den vergangenen sieben Jahrzehnten. Nicht weniger als ein ökologischer und zugleich sozialverträglicher Umbau unserer Industriegesellschaft steht an. Und dafür sind junge Leute, die die Auswirkungen ihrer heutigen Politik noch viele Jahrzehnte spüren werden - so oder so - genauso wichtig wie etwas ältere Abgeordnete mit vielleicht mehr Jahren Erfahrung auf dem Buckel. Helmut Kohl würde sagen: Entscheidend ist, was hinten rauskommt.
Zudem wird die längst noch nicht überwundene Corona-Pandemie das Parlament fordern, die teilweise verschlafene Digitalisierung "bis zur letzten Milchkanne" genauso wie die Wohnungsknappheit und steigende Mieten vor allem in Ballungszentren oder die galoppierenden Energiepreise. Dieser Bundestag hat sehr viel vor der Brust. Und er muss in den kommenden vier Jahren zugleich Vertrauen der Bürger zurückgewinnen, das in der Vergangenheit verspielt wurde.
Eines sollte das neue Parlament allerdings nicht werden, eine gut geölte Abstimmungsmaschinerie für die - sich abzeichnende - Ampel-Regierung. Stattdessen ein selbstbewusstes Gremium, in dem offen, kontrovers und fair um beste Lösungen für Deutschland gerungen wird. Parlamentarische Mätzchen, wie sie die AfD gestern veranstaltete, gehören allerdings nicht dazu.
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