PHOENIX-Programmhinweis für Mittwoch, 16. Februar 2000
Köln (ots)
Der Ereignis- und Dokumentationskanal von ARD und ZDF
13.30 Uhr Russenkinder Heimkehr in ein fremdes Land
Jury war zehn, als seine Eltern Haus und Hof in dem kleinen kasachischen Dorf in der Nähe von Pawlodar verkauften. Er wusste nur, dass er in Deutschland keine Kühe mehr füttern und aus der Milch keinen Käse mehr rühren musste. Das reichte Jury, um sich auf Deutschland zu freuen. Außerdem würde ihn dort bestimmt kein Mitschüler mehr hänseln, "Scheiß-Nazi" zum ihm sagen oder "Deutscher, hau ab!"
Es war vor fünf Jahren als Jurys Eltern von dem Geld des verkauften Hofes zwei Lederjacken auf dem Schwarzmarkt erstanden und die Schmiergelder für die russischen Behörden bezahlten. Mit neun Dollar Restgeld kamen sie nach Berlin. Jury konnte gerade mal "Messer, Gabel und danke" auf deutsch sagen. Nach einem kurzen Sprachkurs wurde er in eine normale Grundschule in Wedding eingeschult. Im Unterricht verstand er nur die Hälfte, und die Freizeit verbrachte er mit einem anderen Russen, der ins seine Nachbarklasse ging.
Bevor er nach Deutschland kam, dachte Jury, er sei Deutscher. Nach einem Jahr in Berlin fühlte er sich als das, was er für alle anderen war: als Russe. Mittlerweile lebt Jury fünf Jahre in Deutschland und außer einem Akzent unterscheidet ihn äußerlich nichts von den anderen Schülern. Trotzdem, so sagt er, habe er kaum einen anderen deutschen Freund. Seine Kumpels, das sind Peter, Sergej, Tanja und Eduard, das ist die Clique russischer Jugendlicher aus dem Neubaugebiet Frankfurter Allee Süd. Sein bester Freund ist Peter, der kurz nach ihm aus Kasachstan kam. Er lebt mit seinen Eltern im "Lichtenberger Russenghetto", wie es von einigen Anwohnern genannt wird. Das "Ghetto" sind vier im Kreis stehende Neubaublöcke, in denen mittlerweile mehr Wolgadeutsche als Berliner wohnen.
Ein Fernsehteam hat die Clique von der Frankfurter Allee Süd für einige Wochen begleitet, war mit dabei, wenn sie mit den Streetworkern von Gangway Fußball spielte oder sich nachts in den Häusereingängen rumdrückte.
In den Ferien fuhr das Team mit Jury und seiner Mutter zurück nach Kasachstan. Das erste Mal nach fünf Jahren besucht Jury seine Freunde, denen es inzwischen noch schlechter geht. Jury ist auf der Suche nach einer Identität, die er wahrscheinlich nie finden wird. Er lebe zwischen zwei Welten, sagt Jury. Er sei zwar aus Kasachstan weggegangen, aber nirgendwo angekommen.
Dokumentation von Andrea Schramm und Jana Matthes
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