PHOENIX PROGRAMMHINWEIS
Montag, 3. Juli 2000
Köln (ots)
19.15 Uhr Der Fall Friederich Nietzsche Kriminalgeschichte einer Verfälschung
Der Ort des Delikts ist die Villa Silberblick in Weimar. Es ist kurz vor der Jahrhundertwende. Während in der ersten Etage der geistig umnachtete Philosoph Friederich Nietzsche stumm auf einem Divan liegt, findet im Erdgeschoss mit seinen Papieren ein gespenstiger Wettkampf statt. Heimlich zerreißt, beschneidet und schwärzt die Archivleiterin ihr nicht gewogene Passagen aus Briefen und Heften, klebt und fügt zusammen, was nicht zusammengehört, schustert aus dem Zusammenhang gerissene Texte zu völlig neuen Büchern mit spektakulären Titeln zusammen- Der Beginn der Verfälschung und Instrumentalisierung eines Denkers, dem bis heute das Etikett eines Blut- und Boden-Propagandisten anhaftet. Die Clique vom Weimarer Nietzsche-Archiv, allen voran die Schwester und spätere Hitler-Freundin Elisabeth Förster-Nietzsche, deutet den passionierten Skeptiker in einen deutschtümelnden Stichwortgeber um. Nietzsche wird zum Lieblingsautor Hitlers, und das Haus, in dem er seine letzten Jahre verbrachte, zur patriotischen Kultstätte.
Die dröhnende Politisierung des Philosophen - ein grotesker Irrtum - hat die Lesart des Philosophen ein ganzes Jahrhundert lang bestimmt: von der falschen Beweihräucherung über Verdächtigungen und Ausgrenzungen bis zur strikten Verdammung. Unbekannt, unterschlagen seine Spottlust, seine antideutschen Bekenntnisse, sein Engagement für Europa, seine Verachtung des Staates.
Während sich der Westen nach dem Krieg vorsichtig vom ideologisierten Nietzsche-Bild frei machte, galt in der DDR zum Schluss das Verdikt: Nietzsche ist der Philosoph der Barbarei und somit Staatsfeind. Jahrzehnte blieb sein Werk ungedruckt. Und welch ein bizarres Szenario: Während der italienische Germanist und Marxist Mazzino Montinari still und unermüdlich mitten in der DDR im Weimarer Archiv den Philosophen neu entdeckte, wurde außen weiterhin das alte Feindbild propagiert. Der Staat ließ das Nietzsche-Archiv verfallen, ebenso das Geburtshaus und das Grab. Doch wurde Nietzsche hier zugleich auch zum verschwiegenen und verbotenen Objekt einer subversiven Verehrung. Theologen an den kirchlichen Hochschulen begeisterten sich für ihn, den "Antichrist", besuchten Geburtshaus und Grab in feierlichen Exkursionen. Viele spätere Pfarrer der DDR sind durch die Schule Nietzsches gegangen.
Nietzsche: ein Jahrhundertmissverständnis, ein Spielball der politischen und ideologischen Irrwege, ein Opfer auch der deutschen Teilung.
Porträt von Reinhold Jaretzky
Rückfragen: PHOENIX Kommunikation Telefon 0221-220-8477 Fax 0221-220-8089
Original-Content von: PHOENIX, übermittelt durch news aktuell