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Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg: Interview mit dem Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn zu Afghanistan und der ,,grünen Marktwirtschaft"

Lüneburg (ots)

Die Grünen mussten die Rolle des Neulings in der
Parteienlandschaft an die Linke abtreten. Ein Fünf-Parteien-System 
birgt für die nun Arrivierten Zündstoff. Während Ex-Umweltminister 
Jürgen Trittin sich Koalitionen mit der Linken vorstellen kann, 
bremst Fraktionschef Fritz Kuhn: "Es gibt massive Differenzen in der 
Wirtschafts- und Außenpolitik." Kuhn war es, der die Partei auf den 
Kurs einer "grünen Marktwirtschaft" verpflichtete. Und Kuhn stellte 
sich gegen die Parteilinie bei der Abstimmung auf dem Göttinger 
Sonderparteitag über den Afghanistan-Kurs und votierte für das 
ISAF-Mandat samt Tornado-Einsätzen. Im Gespräch mit der Landeszeitung
Lüneburg warnt Kuhn vor einem Automatismus bei der Ausweitung des 
Mandates am Hindukusch. Ohnehin könne das Militär nur die zivile 
Stabilisierung flankieren.
Sie haben Ihre Partei auf eine "grüne Marktwirtschaft" 
verpflichtet. Kann der Markt die Herausforderungen des Klimawandels 
schultern? Fritz Kuhn: Der Markt alleine sich selbst überlassen kann 
das sicher nicht. Im Stern-Report für die britische Regierung wurde 
der Klimawandel als "größtes Marktversagen aller Zeiten" 
charakterisiert. Deshalb meint "grüne Marktwirtschaft": klare 
Rahmenbedingungen, die Ökologie zu Leitplanken für die globale 
Wirtschaft machen. Existieren solche Leitplanken, sind Märkte gute 
Instrumente, um effektive Lösungen zu suchen. So brauchen wir 
beispielsweise bei der Automobilindustrie staatlich festgelegte 
Verbrauchsobergrenzen, weil die Konzerne selbst bei dieser Aufgabe 
versagten.
Soll der Staat ordnungspolitisch eingreifen, um das 3-Liter-Auto 
durchzusetzen? Kuhn: Ja, er muss einen Rahmen vorgeben -- etwa wie 
die EU, die eine Obergrenze von 120 Gramm CO2 pro Kilometer bis 2012 
definiert hatte. Ich bin sehr enttäuscht, dass die deutsche 
Automobilindustrie -- unterstützt von Kanzlerin Merkel und 
Umweltminister Gabriel -- die Chance nicht erkannt hat, die in dieser
Obergrenze lag. In zehn Jahren wird nur noch der auf dem Weltmarkt 
Autos verkaufen, der bei der Ökologie die Nase vorn hat. Steht 
Deutschland weiter auf der Bremse, werden wir auch wirtschaftliche 
Nachteile haben. Lange galt bezogen auf die Grünen das Vorurteil, sie
verstünden nichts von Wirtschaft. Jetzt dreht sich die Einstellung. 
Immer mehr verstehen, dass nur der Profite erwirtschaften wird, der 
rechtzeitig in Ökologie investiert.
Ordnungspolitik ist auch beim Umgang mit der Gentechnik gefragt. 
Setzt das neue Gentechnikgesetz den richtigen Rahmen? Kuhn: Es bringt
zwar an einigen Stellen einen Fortschritt, aber es fehlt ihm an 
Konsequenz. Seehofer ist vor allem bei der Regelung für Tierfutter zu
kurz gesprungen. Hier kann Fleisch als gentechnikfrei deklariert 
werden, selbst wenn in geringem Umfang gentechnisch veränderte 
Pflanzen verfüttert worden sind. Als verhinderter Gesundheitsminister
scheint sich Seehofer nicht wirklich für Landwirtschaft und 
Verbraucher zu interessieren, die nun in sein Ressort fallen. Ich 
will beim Einkaufen definitiv wissen, ob es sich beim Fleisch um ein 
gentechnikfreies Produkt handelt. Und das leistet das neue Gesetz 
nicht.
Passt der Staat bei neuen Technologien mit unklarem Gefahrenpotential
nicht grundsätzlich lediglich seine Konzepte an den Stand der Technik
an?  Kuhn: Wir müssen die Balance aushalten zwischen technischem 
Fortschritt und Risikoabschätzung. Nehmen wir die Nanotechnologie, 
die ein riesiges Potenzial aber auch ein paar Gefahren birgt. Man 
muss nicht erst Kosmetika mit Nano-Partikeln auf den Markt bringen, 
um deren Wirkungen dann zu erforschen, sondern man sollte dies schon 
in einem viel früheren Stadium der Entwicklung tun. Geschieht das 
rechtzeitig, sind bereits neue Verfahren zur Risikominimierung im 
Produkt enthalten, was den wirtschaftlichen Erfolg begünstigt.
Soll der Staat so das Versagen der Märkte verhindern?  Kuhn: Das kann
er nicht in letzter Konsequenz, aber er kann uns -- im Zusammenspiel 
mit den Märkten -- vor dem größten Unsinn bewahren.
Muss die Marktmacht etwa der deutschen Energiegiganten für solche 
Zwecke gebrochen werden? Kuhn: Die Macht muss nicht gebrochen werden,
aber der Staat muss erstmal einen Markt herstellen. Noch können die 
"Großen Fünf" in Deutschland nach Gutsherrenart die Preise bestimmen.
Hier muss der Staat Wettbewerb auf einem funktionierenden Markt erst 
begründen. Dann würde sich auch der künstliche Gegensatz von Staat 
und Markt auflösen. Ein funktionierender Markt auf der Suche nach der
besten Energietechnik würde großen Kohlekraftwerken keine Chance 
lassen, sondern auf die erneuerbaren Energien setzen. Dazu bedarf es 
aber Transparenz: Auf Elektrogeräten sollte zum Beispiel draufstehen,
wie viel CO2 die Geräte während ihrer Lebensdauer emittieren. Dies 
würde die Rechte des Verbrauchers stärken.
Ökologisch korrekte Preise fehlen nicht nur bei Elektrogeräten. Wie 
hoch müsste der Benzinpreis sein? Kuhn: Ich will mich da nicht in 
Rechenkunststücke versteigen, weil wir mit der 5-Mark-Diskussion vor 
einigen Jahren schwierige Erfahrungen gemacht haben. Zwar war der 
Preis unter den damaligen Umständen ökologisch korrekt berechnet, 
aber wir hatten die sozialen Kosten nicht berücksichtigt. In dem 
neuen Konzept versuchen wir ökologische und soziale Komponenten 
zusammenzufügen. Richtig ist allerdings, dass Preise nicht die 
ökologische Wahrheit darstellen. Ich kann von Berlin nach Neapel für 
19,90 fliegen, doch für das Taxi von meiner Wohnung zum Flughafen 
zahle ich 50 Euro. Das ist grotesk: Wir müssen schrittweise zu einer 
Bepreisung der CO2-Verschmutzung kommen. Die Ökosteuer war national 
und Emissionszertifikate waren international Schritte in die richtige
Richtung. Die Preise für Öl und seine Folgeprodukte werden von selbst
steigen, alleine, weil die fossilen Ressourcen knapper werden. 
Folglich beginnt eine Phase, in der sich Energieeinsparungen lohnen. 
Vor zehn Jahren bei einem Barrelpreis von 20 Dollar mag meine 
Dachisolierung noch idealistisch gewesen sein, jetzt, da das Öl 100 
Dollar kostet, rechnet sie sich.
Wenn so viel Rahmenbedingungen neu gesetzt werden müssen, wo bleibt 
dann Ihre Absage an die Staatsgläubigkeit der Linken?  Kuhn: Wir 
glauben nicht, dass der Staat alles regeln soll, aber er muss die 
Ziele festlegen. Aber die wirtschaftlichen Ergebnisse werden nicht 
dadurch besser, dass der Staat sich in alles einmischt. Was der 
Wettbewerb leisten kann, soll er auch ungestört leisten dürfen.
Soll die Herausstreichung des Begriffes Marktwirtschaft den Boden 
ebnen für schwarz-grüne Koalitionen?  Kuhn: Nein, das wäre eine 
Fehldeutung. Mein Satz: "Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben" 
ist keine Koalitionsaussage. Aber wir denken, dass die alte soziale 
Marktwirtschaft der Nachkriegszeit, die ihre sozialen Erfolge durch 
Umverteilung großer Wachstumsgewinne erzielt hat, heute -- im 
Zeitalter der Globalisierung -- keine Antworten mehr gibt. Und die 
neue Marktwirtschaft der Neoliberalen, mit ihrer kompletten 
Herausdrängung des Staates, führt in den Wahnsinn. Soziale und 
ökologische Ergebnisse kann ein sich selbst überlassener Markt nicht 
erbringen. In meiner Partei haben anfangs manche gezuckt bei dem 
Begriff, doch "grüne Marktwirtschaft" steht für das Setzen ökologisch
und sozial sinnvoller Rahmenbedingungen -- deshalb haben wir auf dem 
Parteitag dafür auch eine breite Mehrheit bekommen. Wir wollen unsere
wirtschaftspolitische Kompetenz künftig stärker he"rausstreichen.
Gezuckt haben die Grünen auch bei Ihrem Lob für Airbus als Beispiel 
gelungener europäischer Industriepolitik. Es wurde aus Ihrem 
ursprünglichen Entwurf gestrichen. Warum? Kuhn: Bei dem Begriff 
Airbus haben alle nur an die Flugzeug-Giganten gedacht. Gemeint 
hatten wir Airbus aber als Beispiel gelungener Zusammenarbeit 
zwischen Nationen bei Forschung und Entwicklung in Dimensionen, die 
ein Land allein nicht erreichen könnte. Wir hatten die Methode Airbus
gemeint, nicht das Produkt -- doch das war schwer zu kommunizieren.
In der Wirtschaftspolitik gelang der Schwenk, in der Außenpolitik 
misslang er. Der Sonderparteitag forderte einen Bruch. Bereut ihre 
Partei die Jahre, in denen sie den Außenminister stellte? Kuhn: Nein,
an der Basis wird die rot-grüne Zeit positiv gesehen. Wir haben uns 
nicht in das Irak-Abenteuer hineinziehen lassen und sowohl auf dem 
Balkan als auch in Afghanistan mit unseren Konzepten dafür gesorgt, 
dass dort stabilere Verhältnisse herrschen. Der Streit in Göttingen 
ging nicht um die Frage, ob dort deutsche Truppen sein sollen, 
sondern um die richtige Strategie vor Ort. Unter bestimmten 
Bedingungen -- etwa einer Beauftragung durch die UNO -- kann auch ein
militärischer Einsatz im Ausland sinnvoll sein. Wir haben viel 
gelernt in Afghanistan. Etwa, dass der militärische Einsatz nur die 
notwendige Ergänzung zu einem zivilen Stabilisierungsprogramm sein 
kann. Auch, dass vorher über die Frage diskutiert werden muss, wie 
man wieder rauskommt aus dem Einsatzgebiet. Frage ich in den 
Ortsverbänden, ob sie zu unserer Verantwortung für die Afghanen 
stehen, sagen die alle Ja. In Frage gestellt werden allerdings die 
Mittel, die eingesetzt werden. Wir gucken auch künftig genau hin, 
sind gegen Automatismen bei Militäreinsätzen, aber auch gegen ein 
pauschales Nein, womit es sich die Linkspartei viel zu einfach macht.
Sie persönlich haben es sich schwer gemacht und sich der reinen 
pazifistischen Lehre verweigert, für das ISAF-Mandat gestimmt. Jetzt 
ersetzt die Bundeswehr im Norden Afghanistans einen norwegischen 
Verband, entsendet erstmals einen Kampfverband. Stehen Sie zu Ihrer 
Entscheidung?  Kuhn: Wir werden genau hinschauen bei diesem Einsatz, 
ob er auch wirklich im Rahmen des bestehenden Mandates liegt. Gibt es
allerdings irgendwelche Pferdefüße, etwa Bestimmungen, die die 
bisherige Strategie der Bundeswehr in Afghanistan ändern, würden wir 
auch Nein sagen. Das heißt auch, dass wir einen Einsatz der 
Bundeswehr im Süden ablehnen. Die Bundeswehr muss ihre Aufgabe im 
Norden erfüllen. Meine Entscheidung -- entgegen des Göttinger 
Beschlusses -- für das ISAF-Mandat samt Tornado-Einsatz zu stimmen, 
hat den einfachen Grund, dass mich der Einsatz von 
Aufklärungsflugzeugen nicht am Sinn des ISAF-Mandates zweifeln lässt.
Ich habe mich auch gefragt, was wohl die Afghanen sagen würden, die 
ihre Hoffnung auf uns setzen, wenn wir sie jetzt allein lassen 
würden. Wenn man sich bei uns gegen die Parteilinie stellt -- was ich
zum ersten Mal gemacht habe -, steht man in einer besonderen 
Begründungspflicht. Ich denke, ich habe nachvollziehbar machen 
können, dass meine Abstimmungsabweichung fundiert begründet war und 
eng mit meiner Glaubwürdigkeit zusammenhing. Kann man die behalten, 
ist dies in der Politik manchmal ein Pfund, mit dem man wuchern kann.
Das Interview führte Joachim Zießler

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Werner Kolbe
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