Landeszeitung Lüneburg: Europa muss im All erwachsen werden
Experte Dr. Marcel Dickow mahnt mehr Kooperation im Weltraum an, damit die EU nicht von China abgehängt wird
Lüneburg (ots)
Vergangene Woche ging China den nächsten Schritt seines bemannten Weges ins All: Die Raumstation "Himmlischer Palast" wurde auf eine Umlaufbahn gebracht. China zeigt Ehrgeiz, während das NASA-Programm der USA stagniert. Was machen Europas Pläne? Wir fragten den Raumfahrt- und Rüstungsexperten Dr. Marcel Dickow von der Berliner Denkfabrik SWP.
Die Euro-Rettung gilt allgemein als Testfall für den integrativen Willen der EU. Könnte die EU auch im All stärker zusammenwachsen?
Dr. Marcel Dickow: Das sollte sie. Alleine schon deswegen, weil die Raumfahrt eines der kostspieligsten Projekte der EU ist. Das Satellitennavigationssystem Galileo etwa schlägt in den nächsten Jahren mit 5,3 Milliarden Euro zu Buche. Das ist ein gutes Argument für mehr Kooperation und gegen den Rückfall in alte Kleinstaaterei.
Welche Schnittmengen gibt es zwischen Weltraumpolitik und europäischer Sicherheitspolitik?
Dr. Dickow: Es gibt viele Schnittmengen. Das beginnt bei den ganz klassischen Raumfahrtanwendungen für die Streitkräfte, also die Kommunikation über Satelliten, die strategische Aufklärung über Satellitenbilder bis hin zur taktischen Aufklärung über satellitengesteuerte Drohnen. Hinzu kommt der klassische Sicherheitsbereich, also zum Beispiel die Auswirkungen des Klimawandels und humanitäre oder staatliche Krisen. Satellitenbilder können Aufschluss darüber bringen, ob irgendwo Ernten ausfallen oder sich Flüchtlinge auf den Weg machen. Die meisten dieser Punkte betreffen laut EU die zivilen Teile der Sicherheitspolitik.
Welche Chancen bieten Projekte wie Galileo zu einer Vereinheitlichung der europäischen Sicherheitspolitik?
Dr. Dickow: Das ist eine schwierige Frage. Auf einer modellhaften Ebene kann die Weltraumpolitik Vorbild sein. Wie am Boden rühren auch im All viele europäische Probleme aus nicht hinreichend geklärten oder geteilten Kompetenzen. Gelingt es aber den EU-Mitgliedsstaaten, Präzedenzfälle zu schaffen, bei denen die Beschaffung und Nutzung von Projekten erfolgreich ist -- wie bei Galileo oder GMES, dem Umweltbeobachtungsprogramm der EU --, kann der Sicherheitspolitik der Boden bereitet werden. Typisches Beispiel ist die Frage: Wer betreibt künftig Galileo? Vermutlich wird diese Aufgabe einer bereits bestehenden Agentur zugeschlagen werden. Für die anstehende Frage von militärischen oder zivilen Hauptquartieren bei EU-Missionen, die bisher ad-hoc geschaffen werden müssen, kann eine solche Lösung als Vorbild dienen. Der andere Bereich ist die tatsächliche Anwendung der Ins"trumente, die die Raumfahrtpolitik zur Verfügung stellt. Einigen sich die Mitgliedsstaaten und die EU zum Beispiel darauf, Satellitenbilder nicht nur von Fall zu Fall, sondern institutionalisiert auszutauschen, dient das der Vereinheitlichung der Sicherheitspolitik. Einsätze wie im Tschad oder in Somalia würden erleichtert, wenn Satellitenbilder und -kommunikation von vornherein den Beteiligten zur Verfügung stehen.
Schwächt die zwischen EU-Kommission und Mitgliedsstaaten geteilte Kompetenz für die Weltraumpolitik Europas Schlagkraft?
Dr. Dickow: Ja und Nein. Europas Weltraumpolitik wird in einem ständigen Verhandlungszustand geformt. Mehrwert für Europa wird dann erzielt, wenn eine Institution wie die EU-Kommission dieses Projekt als Gemeinschaftsaufgabe begreift und entsprechend koordiniert. Es ist schwierig, weil es Neuland ist. Manchmal dauert es länger, weil immer wieder neu verhandelt werden muss. Manchmal wird es deswegen auch teurer. Aber das ist genau der Prozess, in dem Europa seit 40 Jahren reift: Es werden Präzedenzfälle geschaffen, die dann nachträglich institutionalisiert werden.
Gäbe es mehr Mehrwert, wenn Europa wegkäme von diesem Inselhüpfen und stattdessen eine europäische Weltraumstrategie festlegt?
Dr. Dickow: Auf jeden Fall. Das ist die Planung der EU-Kommission, die eine entsprechende Strategie entwerfen will. Damit will sie vor allem verhindern, dass Mitgliedsstaaten als Einzelkämpfer zu viel Geld ausgeben, obwohl die Aufgaben gemeinsam günstiger erledigt werden könnten. Diese neue Strategie wird unter den Argusaugen der Mitgliedsstaaten entworfen, anschließend diskutiert. Dennoch bin ich mir sicher, dass sie Europa einen Schritt voranbringt.
Inwieweit hängt Europa von anderen Raumfahrtnationen ab?
Dr. Dickow: Es gibt Bereiche, in denen Europa Unabhängigkeit anstrebt, etwa bei der Satellitenkommunikation, der Erdbeobachtung und dem ungehinderten Zugang mittels der in Kourou startenden Trägerrakete Ariane. In anderen Bereichen sucht Europa gezielt die Zusammenarbeit, weil sie Hilfsmittel in den internationalen Beziehungen ist. Beispiele wären hier die Kooperation mit den USA und Russland auf der Raumstation ISS sowie die Erstellung eines Weltraumlagebildes.
Welche Ziele verfolgt das aufstrebende China im All?
Dr. Dickow: Dieselben wie in der internationalen Politik. China will als Großmacht ein eigenständiges Weltraumprogramm haben. Dies wurde auch dadurch angestoßen, dass China in den vergangenen Jahrzehnten von internationalen Raumfahrtprojekten ausgeschlossen war. So hatten die USA verhindert, dass China Teil des ISS-Projektes wird, um den Abfluss von Hochtechnologie zu verhindern. Das stieß einen Emanzipationsprozess an, wie ihn in den vergangenen 25 Jahren auch Europa durchlief. Peking hat den Ehrgeiz, das gesamte Spektrum abzudecken, also unbemannte wie bemannte Missionen mit zivilen und militärischen Komponenten.
Kann die EU von Peking lernen, welche Relevanz die Weltraumpolitik für das Militär besitzt?
Dr. Dickow: Ja. So steht Brüssel wegen der Galileo-Sendefrequenzen in Verhandlungen mit Peking. Einen intensiven Austausch mit den USA gibt es ja schon lange. Das Satellitennavigationssystem ist eines der Felder, auf denen die EU erwachsen geworden ist. Europa verfügt mit Galileo über ein strategisches Instrument, und die EU lernt gerade im internationalen Rahmen bei den schwierigen Frequenzverhandlungen mit China, entsprechend aufzutreten.
Moskau und Peking wollen die militärische Vormachtstellung der USA einhegen. Macht es Sinn, wenn Europa für seine Weltraumprojekte eine ausschließlich zivile Nutzung vorschreibt?
Dr. Dickow: Die Bruchlinien bei der meist zivil wie militärisch nutzbaren Weltraumtechnologie verläuft eher zwischen bewaffnet und unbewaffnet. Hier tritt die EU für ein Verbot von Weltraumwaffen ein. Eine Militarisierung des Weltraums aber kann nicht mehr verhindert werden, denn die Programme der USA und der UdSSR waren von Anfang an militärischer Natur und die EU-Staaten sind ja selbst bereits militärisch im Weltraum. Die EU muss darüber entscheiden, ob sie ihre bis dato zumeist zivil genutzen Programme künftig auch militärisch nutzt. Es gibt gute Gründe, das zu tun. Zum Beispiel Kostenersparnis. Die EU-Kommission hat bisher eine klare Position: Sie betreibt zivile Programme unter ziviler Kontrolle, deren militärische Nutzung aber nicht ausgeschlossen ist.
Sie sagten, mit Galileo wurde die EU erwachsen. Welche Widerstände mussten überwunden werden, um sich vom GPS der USA zu emanzipieren?
Dr. Dickow: Washington hatte lange Schwierigkeiten, zu verstehen, warum Europa nach einem eigenen System strebt, wo es doch den NATO-Partnern Zugang auch zum verschlüsselten, militärischen Signal gewährte. Als die USA erkannten, dass sie Europa als Konkurrenten nicht mehr verhindern können, schalteten sie auf Kooperation um. So wurde 2003 festgelegt, dass beide Systeme kompatibel sein sollen.
Musste Europa den USA eine Störmöglichkeit für Galileo einräumen?
Dr. Dickow: Das war von Anfang an der Knackpunkt. Zunächst war es den USA nicht möglich, das Galileo-Signal -- etwa im Falle eines Krieges -- zu stören, ohne ihr eigenes GPS zu stören. Dies wurde technisch gelöst. Das verschlüsselte, genauere, für staatlich-hoheitliche Aufgaben vorgesehene Galileo-Signal bleibt aber unbeeinträchtigt. Washington hat den machtpolitischen Anspruch, bei Bedarf sämtliche Satellitennavigationssysteme lokal stören zu können.
Kommt die EU-Drohne?
Dr. Dickow: Das ist eines der Gebiete, auf denen Europa noch der Kleinstaaterei verfallen ist. Es gibt zwar mit dem Verteidigungskooperationsvertrag zwischen Großbritannien und Frankreich vom November 2010 eine politische Absegnung der Forschungen in diese Richtung. Zudem gibt es ein Konzept von EADS und natürlich die Möglichkeiten, Drohnen in den USA oder in Israel zu kaufen. Dies ist ein Bereich, in dem Kooperation notwendig wäre, weil es wenig Sinn macht -- wie in Afghanistan -- vier, fünf verschiedene Drohnen im Einsatz zu haben. Im Moment ist es aber eher unwahrscheinlich, dass sich die Staaten auf eine Drohnen-Plattform einigen.
Sie drängen in einer Studie darauf, dass Deutschland und Frankreich verstärkt kooperieren. Beide Staaten sind auch industriepolitische Rivalen. Verhindert diese Rivalität eine engere sicherheitspolitische Verzahnung?
Dr. Dickow: Bisher tut sie das. Es gibt Möglichkeiten, die industriepolitischen Interessen auszutarieren, um die notwendige Kooperation der beiden europäischen Kernstaaten zu ermöglichen. Dazu müssen Berlin und Paris aber ihr Misstrauen ablegen und sich möglicherweise sogar über die Interessen ihrer nationalen Industrien hinwegsetzen. Was Europa braucht, ist ein europäischer Markt für Raumfahrtindustrie, keine abgeschotteten, nationalen Märkte.
Sinkt Europa im Weltall zur drittklassigen Macht ab, wenn Paris und Berlin den notwendigen Willen zur strategischen Kooperation nicht aufbringen?
Dr. Dickow: Das will ich nicht ausschließen. Es ist nicht wahrscheinlich, weil es ja bisher auch ohne eine engere Verzahnung funktioniert hat. Aber die Zeit läuft den Europäern davon. Je mehr Länder wie Brasilien, Indien und China im Weltall in Konkurrenz zu den USA und Russland gehen, desto mehr muss sich auch Europa emanzipizieren. Das Zeitfenster für mehr Europa in der Raumfahrt ist schmal. Rauft sich der alte Kontinent nicht in den nächsten fünf Jahren zusammen, wird er sicherheitspolitisch in die Zweit- oder Drittklassigkeit absinken.
Das Interview führte Joachim Zießler
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