Landeszeitung Lüneburg: Olympische Spiele im Spannungsverhältnis -- Interview mit Prof. Dr. Thomas Alkemeyer
Lüneburg (ots)
Heute werden die Olympischen Spiele 2012 in London eröffnet. Was fasziniert die Menschen an Sportlern, die fair play predigen, aber dennoch dopen; an Spielen, die den Körperkult kommerzialisieren; an der wenig überzeugenden Illusion vom unpolitischen Sport? Prof. Thomas Alkemeyer, Sportsoziologe der Uni Oldenburg: "Olympische Spiele lassen Sehnsüchte lebendig werden, die zum festen Utopien-Arsenal unserer Gesellschaft gehören."
Kein Sportereignis fesselt so viele Menschen wie die Olympischen Spiele. Am Unterhaltungswert von Trapschießen oder Diskuswerfen kann es nicht liegen, nimmt man die normalen Zuschauerzahlen dieser Sportarten zum Maßstab. Was fesselt an Olympia?
Prof. Thomas Alkemeyer: Die Olympischen Spiele leben von den Utopien der Überbietung und der Selbstüberschreitung. Es werden in den Olympischen Spielen Träume und Sehnsüchte verkörpert und lebendig gemacht, die fest in unserer Gesellschaft verankert sind, wie die Leitideen des Fortschritts und eines Körpers, der sich grenzenlos verbessern lässt. Diese Ideen werden in den Olympischen Spielen ästhetisch eingerahmt und zeremoniell überhöht.
Leben die Spiele auch von der Zwiespältigkeit?
Fair play wird zwar gepredigt, ohne Doping ist die bestaunte Selbstüberschreitung oft gar nicht denkbar. Prof. Alkemeyer: Doping gehört zu den Visionen von Fortschritt und Überbietung; und es hat System. Durch die engen Kopplungen des Hochleistungssports mit der Wirtschaft und den Massenmedien entsteht sys"tematisch Druck auf die Athleten, dem offenbar ohne Doping nicht immer standgehalten werden kann. Die Athleten sind mit widersprüchliche Anforderungen konfrontiert: Zum einen sollen sie sich auch deshalb am Ideal des fair play orientieren, weil sonst das Image des Hochleistungssports geschädigt wird. Zudem lebt seine Faszination auch davon, dass die Leistung scheinbar mit der natürlichen Kraft des Körpers erbracht wird. Zum anderen gilt der Imperativ der Leistungssteigerung. Beides zusammen kann nicht funktionieren, weil der Körper irgendwann an seine natürlichen Leistungsgrenzen stößt.
Schon in Peking gab es Gerüchte, dass natürliche Leistungsgrenzen mit Gen-Doping verschoben würden. Wird dies auch London überschatten?
Prof. Alkemeyer: Doping ist im Hochleistungssport nicht in den Griff zu bekommen. Es gibt zwar vielfältige, durchaus ernst zu nehmende Bemühungen, weil die Funktionäre längst selbst gemerkt haben, dass Doping an die Substanz des Sports geht, weil es dessen Faszinationskraft auszuhöhlen droht. Weil aber zugleich der Druck auf die Athleten wächst und weite Teile der Öffentlichkeit nach wie vor nach Höchstleis"tungen lechzen, experimentieren Doping-Labore mit immer neuen Möglichkeiten der Leis"tungssteigerung. Letztlich kommen die Anti-Dopingagenturen in diesem Wettrüsten kaum nach mit der Entwicklung entsprechender Tests.
Steht der Aushöhlung der Faszination nicht die Gier der Zuschauer nach Tragödien um Betrüger und Betrogene entgegen?
Prof. Alkemeyer: Zweifellos nährt sich der Spektakelsport von tragischen Geschichten und gefallenen Helden, von großen Gefühlen, die erst am Bildschirm wirklich sichtbar werden. Doping jedoch untergräbt die Faszinationskraft des Sports, weil man nicht mehr glauben kann, was man sieht. Dabei lebt die Anziehungskraft des Sports entscheidend davon, dass im Hier und Jetzt erstaunliche Leistungen auf der Basis bloßer Körperkraft erbracht zu werden scheinen. Wenn aber immer der Verdacht mitläuft, es könnten unerlaubte Mittel im Spiel sein, und wenn die Gefahr besteht, dass ein Sieger im nachhinein als Doper enttarnt wird -- und dies bis zu acht Jahre nach dem Wettkampf --, dann geht das an den Kern der Glaubwürdigkeit des Sports. Warum kommt es nach Fehltritten nicht zu Sportverdrossenheit wie sie in der Politik zu beobachten ist? Prof. Alkemeyer: Ich glaube schon, dass die Sportverdrossenheit zunimmt. Sie betrifft die Sportarten in unterschiedlichem Ausmaß. Außerdem exis"tieren deutliche nationale bzw. kulturelle Unterschiede. So muss man etwa in Bezug auf die Tour de France in Deutschland schon von einer gewissen Verdrossenheit sprechen -- ausgelöst durch die nicht enden wollende Kette von Dopingfällen. Mein subjektiver Eindruck ist, dass es auch im Falle der Olympischen Spielen zunehmend mehr Menschen gibt, die sich das Spektakel nicht mehr anschauen mögen. Bei einer Mehrheit von Sportinteressierten scheinen die spektakulären Bilder der Wettkämpfe freilich immer noch geeignet zu sein, die Doping-Problematik vorübergehend zu überblenden.
Janusköpfig ist auch der Mythos vom Fest der Völkerfreundschaft, bei dem aber jede Nation vorne im Medaillenspiegel landen will...
Prof. Alkemeyer: Diese Ambivalenz war von vornherein in der olympischen Idee oder im "Olympismus", wie Pierre de Coubertin das selbst genannt hat, angelegt. Zum einen werden die "stärksten" Repräsentanten ihrer Nationen gefeiert, zum anderen soll das Ganze der internationalen Verständigung dienen. Auch dieses Spannungsfeld trägt zur Faszination der Olympischen Spiele bei. Die Zuschauer können mit "ihren" Sportlern mitfiebern und Gefühle nationaler Zugehörigkeit erneuern. Die Repräsentieren der Nation ist in der Bundesrepublik ausdrücklich eine der offiziellen Aufgaben des Hochleistungssports. Und auf der anderen Seite sieht man die Repräsentanten "des Eigenen" im sportlichen Wettstreit mit den "Anderen" verbunden. Also ein Spannungsfeld zwischen Friedenspathos und Ersatzkrieg in der Arena? Prof. Alkemeyer: Als Ersatzkrieg ist das aus meiner Sicht nicht mehr zu bezeichnen. Der moderne Wettkampfsport hat sich von der Sphäre des Krieges emanzipiert. Die Olympischen Spiele von 1936 im nationalsozialistischen Berlin waren noch mal ein Versuch, den sportlichen Wettkampf eng an den Krieg heranzurücken und eine Gleichrangigkeit von sportlicher und kriegerischer Auseinandersetzung zu behaupten. Was heute stattfindet, sind sportliche Wettkämpfe, die zwar von Nationalismen durchdrungen, aber vom Kriegerischen deutlich entfernt sind.
Boden-Luft-Raketen auf Wohnhäusern, Soldaten in den Straßen. Muss, wer die Spiele des Friedens ausrichten will, zum Krieg rüsten?
Prof. Alkemeyer: Olympische Spiele sind seit Jahrzehnten eine Bühne für den Kampf um Aufmerksamkeit. Politiker zeigen sich auf dieser Bühne ebenso gern wie Protestorganisationen und Gesellschaftskritiker. Und selbstverständlich ist ein solches, weltweit verfolgtes Spektakel auch ein idealer Schauplatz für Terror-Aktionen. Insofern scheint es unvermeidbar, dass sich Ausrichterstädte wie in diesem Falle London zur Hochsicherheitszone rüsten. In der Tat steht dies in einer geradezu grotesken Spannung zum Friedenspathos der olympischen Idee.
Wäre es nicht sinnvoller, schon um die Kosten solcher Sicherheitserzeugung zu senken, die Spiele an einem Ort zu belassen, wofür sich natürlich Olympia anböte?
Prof. Alkemeyer: Ich meine, dass dies die verbliebene Faszinationskraft der Spiele nachhaltig schädigen würde. Die Olympischen Spiele leben davon, dass sie an unterschiedlichen Standorten durchgeführt werden. Und nicht zuletzt würde sich die Vergabe der Spiele an nur noch einen Ort nicht mit den Wirtschaftsinteressen vertragen, die mit den olympischen Ringen verknüpft sind. Es geht ja auch um die Erschließung immer neuer Märkte -- nicht nur für Sportartikel. Schon dies macht es nötig, die Olympischen Spiele an unterschiedlichen Orten -- gerade auch in Schwellenländern -- stattfinden zu lassen.
Wie scheinheilig ist es, dem Ideal des unpolitischen Sports zu huldigen, wenn man sich nicht mal über eine Schweigeminute für die Opfer von 1972 einigen kann?
Prof. Alkemeyer: Das ist in der Tat scheinheilig. Selbstverständlich hat der Sport immer wieder als Bühne politischer Botschaften und Auseinandersetzungen eine Rolle gespielt. Deshalb ist es doppelzüngig, einer Schweigeminute für die Opfer von 1972 keinen Raum zu geben.
Heute taugt es zum Eklat, wenn US-Athleten in Ausgehanzügen antreten, die im Gläubigerland China hergestellt wurden. Wann verlor der Sport in Sachen Kommerzialisierung seine Unschuld? Prof. Alkemeyer: Es ist die Frage, ob der große Sport, der Leistungssport, je unschuldig war. Sicherlich zieht er heute größere kommerzielle Interessen auf sich als in seiner Entstehungsphase. Aber eine neue Entwicklung ist die Kommerzialisierung nicht. So war Coca Cola bereits 1928 in Amsterdam ein Hauptsponsor der Spiele. Zweifellos hat die Macht der Bildmedien, insbesondere des Fernsehens, dazu beigetragen, dass der Hochleistungssport noch attraktiver geworden ist für wirtschaftliche Interessen. Sport öffnet die Zuschauer emotional, macht sie so empfänglich für Werbebotschaften aller Art. Zudem visualisiert er genau die Werte und Utopien, von denen auch die Wirtschaft zehrt: Den Wert der gegen ein Maximum an Konkurrenten erbrachten Leistung; die Utopie, durch eigene Anstrengung ständig besser, leistungsfähiger und schöner werden zu können. Oder auch die Ideologie, dass wir insofern in einer gerechten sozialen Ordnung leben, als in dieser Ordnung jeder den Platz einnimmt, den er aufgrund seiner Leistungsfähigkeit verdient. Der Leistungssport verkörpert diese Utopien und Mythologien. Er lässt damit ein Idealbild der modernen Gesellschaft greifbar werden, das mit ihrer Realität wenig zu tun hat.
Das Interview führte Joachim Zießler
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