Landeszeitung Lüneburg: "Es besteht keine Umsturzgefahr"
Große Koalition nur im Krisenfall - Politologe Dr. Gero Neugebauer rät zur Minderheitsregierung
Lüneburg (ots)
Große Koalition? Schwarz-Grün? Der fulminante Wahlsieg der Union macht die Regierungsbildung nicht einfacher, denn Kanzlerin Angela Merkel hat ihren liberalen Koalitionspartner verloren. Der Politikwissenschaftler Dr. Gero Neugebauer sieht in einer Minderheitsregierung einen Beitrag zur politischen Kultur in Deutschland.
Angela Merkels Triumph ist für die Union längst in Ernüchterung umgeschlagen. Der künftige Koalitionspartner wird den Preis nach oben treiben und Horst Seehofer hat neue Stärke gewonnen. Das Regieren wird nicht leichter für die Kanzlerin...
Dr. Gero Neugebauer: Es wird schon deshalb nicht leichter, weil es neben einer Großen Koalition und Schwarz-Grün ja noch eine dritte Möglichkeit gibt, nämlich eine Minderheitsregierung. Das wäre ein Beitrag zur Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland. Im Übrigen hat Angela Merkel das ja schon einmal praktiziert, als sie nämlich bei der Europapolitik in den eigenen Reihen keine Mehrheit gefunden und deshalb die Unterstützung durch die Sozialdemokraten gesucht hat. Warum soll eine Große Koalition mit ihrer riesigen Mehrheit die mangelnde Fähigkeit der Kanzlerin verdecken, in Krisensituationen die eigene Partei hinter sich zu kriegen?
Auch den Sozialdemokraten wäre einiges erspart geblieben, wenn es für eine Alleinregierung der Union gereicht hätte. Ist es für die SPD im Hinblick auf die Zeit nach Merkel besser, Juniorpartner einer Großen Koalition zu sein oder eine starke Oppositionspartei?
Neugebauer: Meiner Meinung nach ist es für die SPD grundsätzlich besser, eine starke Oppositionspartei zu sein, denn sie ist bei dieser Wahl angetreten, um einen Machtwechsel herbeizuführen. Und zwar mit den Parteien, die ebenfalls in der Opposition sind. Wenn sie diese Strategie aufgibt, wird sie unglaubwürdig. Sie müsste einen Wahlkampf führen gegen jene Parteien, mit denen sie später eine Regierung bilden will. Aus der Position einer Regierungspartei heraus, in der sie Dinge erledigen muss, die möglicherweise einer späteren Kooperation im Wege stehen. Die SPD hat die Chance, entweder Merkels Pudel zu werden und damit - wie es bei der FDP zu sehen war - Funktionspartei zu sein, die nur noch Mehrheiten beschafft, sich aber inhaltlich nicht mehr profilieren kann. Oder sie bietet an, aus der Opposition heraus mit der Regierung zu kooperieren, angefangen bei der Wahl der Kanzlerin bis hin zu bestimmten Gesetzesvorhaben. Damit könnten die Sozialdemokraten demonstrieren, dass sie zu konstruktiver Politik bereit sind, aber eben auch ihre eigenen Ziele mit durchsetzen wollen.
Sie empfehlen Angela Merkel also eine Regierungsbildung ohne eigene Parlamentsmehrheit?
Neugebauer: Ich sage ja nicht, dass man das sofort umsetzen muss, aber wir sollten diesen Weg - den übrigens einige skandinavische Länder und auch die Niederlande bereits beschritten haben - ganz offen diskutieren und nicht nur sagen "Opposition ist Mist" und darauf schielen, dann für diesen oder jenen verdienten Wahlkämpfer eine Anschlussverwendung als Minister zu haben. Warum soll die SPD Angela Merkel nicht unterstützen? Schließlich hat die Mehrzahl der Wähler, die von der SPD zur CDU abgewandert sind, dies wegen Frau Merkel getan, und 35 Prozent der SPD-Anhänger haben Merkel als Kanzlerin bevorzugt. Da gibt es schon genug Unterstützung. Wir haben in der Bundesrepublik ja bereits Minderheitsregierungen gehabt. Kurze Zeit unter Ludwig Erhard, dann unter Helmut Schmidt. In beiden Fällen haben die FDP-Minister das Kabinett verlassen. Es gab auch eine rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen und, wie schon erwähnt, auf Bundesebene bei der Europapolitik - auch wenn das nie wirklich thematisiert worden ist. Die Koalitionen, die sich jetzt anbieten, sind aus demokratietheoretischer Sicht problematisch. Eine Große Koalition ist immer notwendig, wenn sich die Gesellschaft und der Staat in der Krise befinden. Wir haben aber - überspitzt formuliert - keine fremden Truppen an unseren Grenzen, wir haben keinen Bürgerkrieg im Lande, wir haben eine florierende Wirtschaft, und es besteht keine Umsturzgefahr.
Kommt die SPD angesichts der Schlappe der Grünen und des sich abzeichnenden Richtungsstreits auf Dauer ohne Lockerungsübungen gegenüber der Linkspartei aus?
Neugebauer: Nein, aber auch die Linkspartei muss Lockerungsübungen machen. Es gab bisher keine Diskussion in der Sozialdemokratie und nur eine ganz kurze Debatte bei der Linken. Ein Teil der westdeutschen Linken definiert sich als Gegner der SPD. Solange die Linke ihre politische Identität aus dieser Position ableitet, frage ich mich, wie sie ernsthaft an eine Kooperation denken kann. Insofern haben beide Parteien noch einiges zu erledigen.
Obwohl es keinen mitreißenden Wahlkampf gegeben hat, ist die Wahlbeteiligung - wenn auch nur leicht - gestiegen. Wie ist das zu erklären?
Neugebauer: Die Union hatte ja von vornherein gut mobilisiert, was man an den guten Umfragewerten ablesen konnte. Einen Schub hat zum Schluss gewiss auch noch einmal die misslungene Zweitstimmenkampagne der Liberalen gebracht. Mit der Erinnerung an den Regierungswechsel in Niedersachsen hat sicher mancher Wähler gesagt: So etwas muss verhindert werden. Die Mehrzahl der Wähler, die sich in letzter Minute entschieden haben, sind aber zu anderen Parteien gegangen, allerdings nicht in ausreichendem Umfang zur SPD.
Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass die schwarz-rot-goldene Halskette der Kanzlerin und Peer Steinbrücks Mittelfinger beinahe die einzigen Aufreger des Wahlkampfes waren?
Neugebauer: Der Wahlkampf wird als langweilig wahrgenommen, weil er sich an Äußerlichkeiten festgemacht hat und kontroverse Themen gemieden worden sind. Die Strategie der Union hatte drei Elemente: Erstens: Ich nutze die Schwächen der Gegner aus und schwäche sie weiter - Stichwort Themenklau. Zweitens: Ich suggeriere eine Situation, in der eine Richtungsentscheidung bevorsteht, indem ich behaupte, es gäbe einen Lagerwahlkampf - Rot-Rot-Grün gegen den guten Rest der Republik. Das ist ein Reflex aus jenen Zeiten der Republik, als rechts von der Trave russische Panzer standen und links Segeljachten lagen. Der dritte und wichtigste Punkt war die Personalisierung: Die Union hat die Partei auf die Person Merkel reduziert. In die Person Merkel sind - schlicht formuliert - Sehnsüchte projiziert worden, vor allem das Bedürfnis nach Schutz vor Krisen und deren Auswirkungen auf die eigene Situation. Angela Merkel hat ja verschiedene Rollen gespielt. Einmal war sie die sparsame schwäbische Hausfrau. Dann war sie hinsichtlich der Wahlversprechen Fortuna mit dem Füllhorn. Angela Merkel hat einen gesunden, gut entwickelten Machtinstinkt, der durchaus Anerkennung findet, sie tritt aber nicht mit Herrschaftsallüren auf. Sie ist wie eine alleinerziehende Mutter. Da fragen sich die Leute doch: Warum soll ich meine Mutter abwählen?
Schuld an der Langeweile trägt aber auch die SPD. Die Sozialdemokraten haben es versäumt, ja sie mussten es sogar unterlassen, Kontroversen aufzudecken. Sie haben beispielsweise ihre alternativen Vorschläge zur Europapolitik nicht thematisiert. Jeder weiß, dass es zu anderen Maßnahmen gegenüber Griechenland kommen muss. Die SPD plädiert für einen "Marshallplan", um den wirtschaftlichen Aufschwung in Griechenland zu fördern. Hätte sie dies im Wahlkampf präsentiert, hätte sie sofort gehört: Die SPD will das Geld der deutschen Steuerzahler diesen faulen Leuten da im Süden in den Rachen werfen. Also hat sich die SPD enthalten. Einen zweiten Punkt, der für das Selbstverständnis der Sozialdemokraten besonders wichtig ist, nämlich die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich - die nicht geringer geworden ist, obwohl Frau Merkel sagt, allen ginge es besser - hat die SPD ebenfalls nur am Rande thematisiert. Nun ist es in der Tat ein Problem, wenn jene Politiker, die an Formulierung und Realisierung der Agenda 2010 beteiligt waren, heute um die Bürger werben, die sich als Opfer der Reformen sehen und sich von der Sozialdemokratie abgewendet haben. Es ist der SPD nicht gelungen, mögliche Veränderungen an Hartz IV - etwas eine Stärkung des Elements der Förderung von Langzeitarbeitslosen - zu vermitteln, ohne gleich ganz von der Reform abzurücken. Es wäre besser gewesen, wenn die Sozialdemokraten gegen die Person Merkel Themen gesetzt hätten statt die Person Steinbrück.
Seit Langem wird die Erosion politischer Bindungen und damit das Ende der klassischen Volksparteien konstatiert. Nun war die CDU/CSU nah an der absoluten Mehrheit. Erleben wir das Ende der Zersplitterung der Parteienlandschaft?
Neugebauer: Ja und nein. Wir reden seit einiger Zeit von einem fluiden Parteiensystem. Das heißt, Parteien gehen verschiedenste Koalitionen ein, neue Parteien tauchen auf, es wird schwieriger, sich als große Partei einen kleineren Partner für eine Koalition zu suchen. Nun stellen wir verblüfft fest, dass es nur noch vier Parteien im Bundestag gibt. Ich würde mal ganz vorsichtig formulieren: Was wir mit dem Verschwinden der FDP und dem Auftauchen der AfD erleben, ist vergleichbar mit der Gründung der WASG und dann der Linken Anfang des Jahrtausends. Das bürgerliche Lager differenziert sich. Bei den Europawahlen werden wir erleben, wie stabil die derzeitige Parteienkonstellation ist, ob sich die AfD behaupten kann und ob die Piraten wieder auftauchen werden. Denn die Wähler können bei dieser Wahl ihren Protest äußern und auf ein Parlament übertragen, von dessen Entscheidungen sie glauben, nicht unmittelbar betroffen zu sein. Ich nehme an, dass bestimmte Tabus, die in diesem Wahlkampf noch geherrscht haben - etwa die Perspektiven für Europa - dann nicht mehr existieren werden.
Wird die Alternative für Deutschland genauso untergehen wie die Single-issue-Partei der Piraten oder bekommt die AfD weiteren Auftrieb, wenn ein drittes Hilfspaket für Griechenland nötig wird oder gar ein Schuldenschnitt? Auch Spanien, Portugal, Italien und Frankreich könnten noch teuer werden für die deutschen Steuerzahler.
Neugebauer: Die AfD wird so lange bestehen, wie es in der deutschen Bevölkerung ein Interesse gibt, der angeblichen Alternativlosigkeit eine Alternative entgegenzusetzen. Und zwar eine Alternative, die der Mentalität entspricht: Wir haben zwar Mitleid, wir wollen etwas geben, aber nichts verschenken. Erst recht nicht, wenn keine Rückflüsse kommen. Insofern wird die AfD mit ihrer Behauptung, Deutschland würde Geld in Fässer ohne Boden werfen, zunächst weiter Zulauf bekommen. Langfristig hängt aber vieles davon ab, wie die anderen Parteien mit dem Thema Europa umgehen werden. Wenn man ernsthaft auf so etwas wie eine politische Union hinarbeitet, muss man weitere Schritte der wirtschaftlichen und sozialen Integration diskutieren und auch gehen. Dann wird die AfD noch deutlicher als heute feststellen, dass sie Politik aus der Vergangenheit als Rezept für die Zukunft anbietet. Ob sie dann noch so viel Zuspruch finden wird, weiß ich nicht.
Braucht Deutschland die FDP?
Neugebauer: Wir haben Raum für eine marktliberale Partei. Da könnte die FDP ihren Platz finden. Aber der Eiertanz, den sie mit einer Vielzahl unterschiedlichster Themen veranstaltet hat, war wirklich Quatsch. Der politische Liberalismus in Deutschland hängt nicht von der Existenz der FDP ab. Alle Aspekte des Verhältnisses der Bürger zum Staat, Fragen nach Bürgerrechten und Datenschutz, sind auch bei anderen Parteien ganz gut aufgehoben. Aber ich sehe durchaus Potenzial für eine Partei, die gegen staatliche Reglementierung und Bürokratie vorgeht und mit einer knallharten Programmatik die Interessen mittlerer und kleiner Unternehmen vertritt - das hat die FDP bisher aber kaum geleistet.
Brauchen die Grünen einen Winfried Kretschmann an der Parteispitze, um wieder eine Machtoption zu bekommen?
Neugebauer: Die Grünen brauchen eine Besinnung auf ihre Herkunft. Auf den Konflikt, der sie groß gemacht hat. Eine Besinnung auf die Dauerhaftigkeit des Konfliktes Ökonomie/Ökologie und auf die Bedeutung, die dieser in der heutigen Zeit hat. Wenn sie in einer rot-grünen Konstellation an die Macht kommen wollen, müssen sie ihr wesentliches Standbein, nämlich das Thema Umwelt, wieder stärken und gleichzeitig sozialpolitische Kompetenz gewinnen. Während umgekehrt die Sozialdemokratie ihre wirtschaftspolitische Kompetenz ausbauen und ihre sozialpolitischen Ziele als Zentrum einer gemeinsamen Politik verankern muss. Ich sehe keine Chance für eine Partei, die bei den Wählern den Eindruck erweckt, dass das, was ihre Identität ausmacht, nebensächlich geworden ist.
Die Ära Merkel dürfte spätestens 2017 enden - vielleicht auch früher. Wer kommt dann?
Neugebauer: Es gibt keine ernstzunehmenden Rivalen. Das ist ein Problem, das entsteht, wenn sich eine Person an der Parteispitze von der Partei emanzipiert und wenn sich die Partei das gefallen lässt. Wir müssen davon ausgehen, dass in der Entscheidung über eine Koalition auch die Entscheidung über den Anfang des Endes der Ära Merkel deutlich wird und dass in der Union dann auch die Diskussion über die Nachfolge beginnen wird.
Das Gespräch führte Klaus Bohlmann
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