Landeszeitung Lüneburg: "Die Welt folgt nicht stur den Strategen" - Interview mit Niels Annen, SPD
Lüneburg (ots)
Konflikte, Kriege, Seuchen - die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Dennoch streift Deutschland nur langsam das Primat der Innenpolitik ab, das im Kalten Krieg mit seinen festgefügten Blöcken galt. Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, ist froh, dass wieder außenpolitische Grundsatzdebatten stattfinden. Aber er drängt auf schnelle Ergebnisse: "Während wir diskutieren, müssen wir Krisen managen, die Europas Stabilität gefährden."
Die Herausforderung durch das IS-Kalifat, ein Gaza-Streifen in Trümmern, ein aggressives Russland, ein gärender Balkan - hätte sich Deutschland nicht ruhigere Zeiten auswählen können, um mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen?
Niels Annen: In der Tat. Als ich vor einem Jahr außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion wurde, überlegte ich mit Kollegen, wie wir wieder ein paar außenpolitische Grundsatzdebatten anstoßen können, nachdem dies in den vier Jahren unter Guido Westerwelle unterblieben war. Heute muss ich mir über zu wenig Aufmerksamkeit für die Außenpolitik keine Gedanken machen.Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein, wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte. So richtig es daher ist, dass wir Grundsatzdiskussionen führen über die Gedanken von Bundespräsident Gauck, von Steinmeier und auch von Verteidigungsministerin von der Leyen, so wenig können wir uns den Luxus erlauben, auf die Ergebnisse zu warten. Wir müssen jetzt Krisen managen, die die Prosperität unseres Kontinents bedrohen, während wir uns in der Welt neu orientieren. Früher nahmen die Bürger Anteil an Krisen, doch sie wirkten weit weg. Mit der Ukraine-Krise und den radikalisierten Rückkehrern aus Syrien und dem Irak, rückt die Gewalt in unsere Nachbarschaft. Und deshalb können wir uns auch nicht raushalten.
Raushalten möchte sich die Türkei beim Kampf gegen IS, zieht gegen die Kurden zu Felde, nachdem lange klammheimlich die Gotteskrieger von der Al-Nusra-Front unterstützt wurden. Wie kann der NATO-Partner und EU-Kandidat eingebunden werden?
Annen: Die sehr ambitionierte Außenpolitik von Erdogan ist in wesentlichen Aspekten gescheitert. Zunächst wurde ein Kurs ausgerufen, der zu "Null Problemen" mit den Nachbarländern führen sollte. Mittlerweile hat die Türkei fast mit allen Nachbarn gravierende Probleme. Der eigene Anspruch, eine führende Rolle in der islamischen Welt einzunehmen, ist immer schwerer einzulösen. Kernproblem ist, dass Ankara eine Reihe sich widersprechender außenpolitischer Ziele hat: Sie will Assad stürzen, mit der PKK Frieden schließen, aber zugleich die Etablierung eines kurdischen Staates verhindern. Ich bin über diese ambivalente Haltung der Türken irritiert. Die Antwort auf die Frage, welche Stellen der Grenzen zu Syrien offen und welche geschlossen sind, ist vielsagend: In von Kurden beherrschten Regionen wird nichts durchgelassen, zum Teil nicht mal humanitäre Hilfe, während die Grenze zu IS- oder Nusra-beherrschten Gebieten weitgehend offen ist. Auf der anderen Seite hat die Türkei mehr als andere Staaten getan, um die Flüchtlinge zu versorgen - mehr als eine Million sind schon auf ihrem Boden. Und ohne Ankara ist eine Lösung der Situation nicht möglich. Es gibt vorsichtigen Grund zum Optimismus nach der Ankündigung, Peschmerga aus dem Irak nach Kobane zu lassen. Auch sollen kurdische Kämpfer aus Syrien in türkischen Krankenhäusern behandelt worden sein. Stück für Stück scheint sich Erdogan zu korrigieren. Wir hatten in Hamburg bereits dramatische Auseinandersetzungen zwischen Salafisten und Kurden. Meine Sorge ist, dass ein Scheitern des Friedensprozesses zwischen der Türkei und der PKK auch für Deutschland eine Katastrophe wäre. Das Bild von wartenden türkischen Panzern mit der brennenden Stadt im Hintergrund hat dem Image der Türkei sehr geschadet.
Hat Erdogan damit die Chance zur Aussöhnung mit den Kurden im eigenen Land bereits verspielt?
Annen: So weit würde ich nicht gehen. Aber er hat eine Riesenchance vergeben, die Aussöhnung voranzutreiben. Wenn die türkische Armee auf Seiten der Kurden in Kobane eingegriffen hätte, wäre die positive Wirkung in der kurdischen Bevölkerung immens gewesen. Andererseits gibt es auch noch eine Wahrheit hinter dem offiziellen Bild, so sollen die irakischen Kurden Waffen aus der Türkei erhalten haben. Und bei allem Respekt vor den kurdischen Kämpfern muss man auch bedenken, dass die PKK nicht ohne Grund auch in Deutschland als Terrororganisation gilt. Es gab Morde auch auf deutschem Boden. Auch wenn sie mutig gegen IS kämpfen, ist die PKK kein natürlicher Partner für uns.
Aber ein realpolitischer. Nur mit Luftschlägen wird der IS nicht zu besiegen sein. Wenn die Allianz keinen Stiefel auf irakischen und syrischen Boden setzen will, braucht sie Verbündete. Ist es Zeit für Realpolitik, für eine strategische Allianz mit Assad?
Annen: Stellen Sie auch noch leichte Fragen? (lacht) Man muss bereit sein, mit allen Kräften zu reden, wenn man eine politsche Lösung will, auch mit dem Assad-Regime. Aber ich kann mir keine Verständigung vorstellen, bei der Assad an der Macht bleibt, denn er ist inzwischen vermutlich für mehr als 150 000 Tote verantwortlich. Zudem ist er als Gegner der zentrale Anziehungspunkt für Islamisten aus aller Welt - leider auch aus Deutschland. Man hätte in den ersten Monaten des Konfliktes darauf verzichten können, seinen Rücktritt zu fordern. Doch die Zeit ist darüber hinweggegangen. Dennoch muss eine Lösung das Baath-Regime einbinden, aber ohne die Person Assad.
Putin hat uns gelehrt, dass die Grenzen auch in Europa nicht unantastbar sind. Müssen wir uns auch von der Illusion verabschieden, dass Landesverteidigung - umgeben von Freunden - ein Relikt vergangener Zeiten ist?
Annen: Zum Glück bleiben wir ja von Freunden umgeben. Putins größte Fehleinschätzung war, zu glauben, man könne Europa in der Krim-Frage spalten, würde sich gerade mit uns Deutschen schon irgendwie verständigen. Aber unsere Priorität bleibt selbstverständlich die Europäische Union. Die ist die Basis für Prosperität und das Vertrauen, das unsere Nachbarn nach dem Zweiten Weltkrieg mittlerweile in uns setzen. Würden Polen und Balten den Eindruck bekommen, sich nicht mehr auf uns verlassen zu können, würde das europäische Projekt, von dem wir so stark profitiert haben, scheitern. Wir brauchen nicht mehr Geld für die Bundeswehr. Es reicht, die vorhandenen Mittel effektiver einzusetzen. Es wäre ein Anfang, den bewilligten Etat auch auszuschöpfen. Frieden in Europa ist auf Dauer nur mit Russland möglich, deshalb ist es richtig, dass Steinmeier die Gesprächskanäle nach Russland offengehalten hat. Die alte sozialdemokratische Idee gemeinsamer Sicherheit ist in krisenhaften Zeiten aktueller denn je.
Ist die auch sozialdemokratische Idee eines gemeinsamen Hauses Europa unter Einbeziehung Russlands angesichts der Verunsicherung in den ehemaligen Sowjetsatelliten passé?
Annen: Davor kann ich nur warnen. Das habe ich vor wenigen Tagen auch so in Polen gesagt, wo ich dem Eindruck entgegengetreten bin, Deutschland sei zu nachsichtig mit Russland. Sowohl Kanzlerin als auch Außenminister pflegen eine klare Sprache gegenüber Putin. Wir sind über die politische und auch die wirtschaftliche Entwicklung besorgt. Aber Russland bleibt unser Nachbar. Die Idee extrem konservativer Kräfte im Westen, Russland auszuschließen, ist zum Scheitern verurteilt. Der Kreml überschätzt seine Ressourcen, fühlt sich stark, weil er - im Gegensatz zu uns - bereit ist, Militär einzusetzen, doch die Wirtschaft steht auf tönernen Füßen. Die vermeintlich strategische Alternative, Öl und Gas nach China zu exportieren, besteht ohne Pipeline nur auf dem Papier. Auf lange Sicht wird es wieder eine Annäherung geben, wenn Politiker in der Verantwortung stehen, die nicht vergangenen Großmachtzeiten nachträumen.
Derzeit kann die Bundeswehr den Spagat zwischen neuen außenpolitischen Ambitionen und vorhandenen Fähigkeiten nicht halten. Wer, wenn nicht die große Koalition könnte die Kraft aufbringen, eine Struktur zu schaffen, in der der Bundeswehr das gelingt?
Annen: An dieser Aufgabe werden wir zu Recht gemessen. Wir wollen die Bundeswehr zu der Armee machen, die wir benötigen. Diesen Kraftakt gehen wir gemeinsam an, erwarten als Sozialdemokraten dann aber auch, dass Ministerin von der Leyen, die bisher sehr zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt abgestimmte Politik nicht durch Alleingänge wie beim Drohnen-Einsatz in der Ukraine konterkariert.
Sechs EU-Staaten hängen zu hundert Prozent am Gas-Tropf Russlands. Mangelt es der Händlergemeinschaft Europa an der strategischen Erkenntnis, dass Energiesicherheit ein wichtiges sicherheitspolitisches Ziel ist?
Annen: Mittlerweile hat es wohl jeder verstanden. Skurril war in den vergangenen Wochen allerdings, dass gerade die Nationen, deren Abhängigkeit von den russischen Ressourcen am größten ist, zugleich die militanteste Rhetorik gegenüber dem Kreml pflegten. Wir sind zu 35-36 Prozent abhängig von russischen Lieferungen. Aber wir wären in der Lage, den Ausfall von Lieferungen über die Ukraine über einen längeren Zeitraum aufzufangen. Doch mittelfristig sind wir alle von einer verlässlichen, bezahlbaren Versorgung abhängig. Deswegen bleibt das Prinzip der wirtschaftlichen Verflechtung aktuell: 80 Prozent aller russischen Erlöse auf dem Energiesektor werden mit dem Westen erzielt. So gesehen ist die Drohung mit einem Gas-Embargo ein stumpfes Schwert. Die Diversifizierung der Energiequellen muss vorangetrieben werden. Unsere Anstrengungen im Bereich Erneuerbare Energien zahlen sich jetzt übrigens besonders aus. Das weckt mittlerweile sogar Interesse in Polen, das sich mit seiner Kohleorientierung diesem Weg bisher noch verweigert hat.
Die USA müssen dank Schieferöl nur noch 20 statt 50 Prozent ihres benötigten Öls einführen. Zugleich stellen sie sich der pazifischen Herausforderung China. Muss sich Europa darauf einstellen, künftig stärker in die Pflicht genommen zu werden für den Schutz von Handels- und Versorgungswegen?
Annen: Mit der Forderung sind wir schon lange konfrontiert. Dadurch, dass sich die USA quasi unabhängig von Energieimporten gemacht haben, erscheint die Option, Europa diese Aufgabe mit einem stärkeren Druckpotenzial zu übergeben, greifbarer. Doch die Realität folgt nicht immer den Strategen. Die USA müssen sich in Nahost wieder verstärkt engagieren, ebenso blicken sie wegen der Ukraine wieder nach Europa. Mittelfristig kommt diese Aufgabe aber auf uns zu. Wir Europäer müssen uns dafür wappnen, indem wir die Aufgabenteilung in der Sicherheitspolitik vorantreiben.
Das Interview führte
Joachim Zießler
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