Landeszeitung Lüneburg: Europas Freiheit ist nicht grenzenlos
Dr. Andreas Pudlat: Schengen ist eine Erfolgsgeschichte, auch wenn es eine um Bürgernähe bemühte Bürgerferne widerspiegelt
Lüneburg (ots)
Schengen ist neben der gemeinsamen Währung eine der für den Bürger spürbarsten Errungenschaften der europäischen Integration. Dennoch verhallte jetzt der 20. Jahrestag des Wegfalls der Grenzkontrollen in Europa nahezu ungehört. Dr. Andreas Pudlat forscht an der Universität Hildesheim über das Schengener Abkommen: "Es ist eine Erfolgsgeschichte, sorgt im Inneren für ein Zusammenwachsen. Die Tendenz zur Abschottung nach außen war aber von Anfang an angelegt."
Der Jahrestag des Schengener Abkommens ging in Griechenland-Krise und Zuwanderungsdebatte unter. Die europäische Vision verblasst. Ist das Schengener Abkommen in Gefahr?
Dr. Andreas Pudlat: Nein. Wir hatten in den vergangenen Jahren zwar immer wieder Debatten, ob man einzelne Bestimmungen ändern sollte - insbesondere für die befristete Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen. Das Abkommen selbst aber ist Teil des EU-Rechts und nicht in Gefahr. Niemand will zurück in die Ära der Schlagbäume. In aktuellen Diskussionen geht es nur darum, Regelungen an neue Herausforderungen anzupassen. Schengen gilt als hohes Gut, was auch daran zu erkennen ist, dass derzeit trotz hohen Migrationsdruckes keine ernsthafte Debatte läuft, Grenzkontrollen sofort wieder einzuführen - obwohl dies befristet Schengen-konform sogar möglich wäre.
2013 gaben sich die Schengen-Staaten die Möglichkeit, das Abkommen befristet außer Kraft zu setzen. Hat man sich hier ein gefährliches Ins-trument geschaffen? In dramatischeren Zeiten könnte dies der Anfang vom Ende sein.
Dr. Pudlat: Diese Außerkraftsetzung wird von allen als Ultima Ratio gesehen. Außerdem wurde den europäischen Institutionen allgemein ein stärkeres Mitsprache- und Kontrollrecht eingeräumt. Man kann also erwarten, dass entsprechend verantwortungsvoll mit diesem Instrument umgegangen wird. Es darf auch nicht vergessen werden, dass bei G-8-Gipfeln, der WM 2006 und der EM 2008 im Fußball bereits kurzfristige Grenzkontrollen zur Abwehr von gewaltbereiten Chaoten durchgeführt wurden. Das Abkommen selbst war damit auch nicht in Frage gestellt.
Wie lautet die Bilanz nach 20 Jahren ohne Grenzkontrollen?
Dr. Pudlat: Grundsätzlich ist es eine Erfolgsgeschichte, auch wenn die Bevölkerung in einigen Gebieten Vorbehalte entwickelt hat, weil sie - zumindest in der Selbstwahrnehmung - unter dem Wegfall der Grenzkontrollen zu leiden scheint. In bestimmten Grenzregionen stieg die Kriminalitätsrate tatsächlich an. Das heißt aber nicht, dass neue Kriminalitätsformen entstanden sind. Reisende Tätergruppen vor allem aus Ost- und Südosteuropa gab es auch schon Anfang der 1990er-Jahre, als noch sehr intensiv kontrolliert wurde. Allerdings haben sie damals anders gearbeitet, schlugen unter anderem in der Mitte Deutschlands zu - etwa in Niedersachsen. Im Grenzgebiet mit der damals wahrnehmbar hohen Polizeipräsenz fühlten sich die Menschen sicher. Heute ist es so, dass die Tätergruppen eher in Grenznähe einbrechen oder Autos stehlen, um sofort wieder jenseits der Grenze untertauchen zu können. Das führt in Grenznähe zu der Wahrnehmung, dass ein neues Problem entstanden sei. Tatsächlich hat es sich nur verlagert. Positiv muss man bilanzieren, dass das Reisen und der Warentransport in Europa leichter geworden sind. Die Wirtschaft wurde von teuren und zeitaufwändigen Formalitäten entlastet. Die Staaten konnten Infrastruktur an den Grenzen abbauen und Personal einsparen. Und psychologisch ist Schengen ein Gewinn, weil der Reisende in das Nachbarland quasi hinübergleitet - ohne den Bruch früherer Tage. So wächst der europäische Raum im Inneren zusammen. An den Schengen-Außengrenzen bleibt es aber bei massiven Kontrollen.
Reisefreiheit nach innen, aber Festung nach außen - wandelte sich mit den Dubliner Abkommen der Charakter Schengens?
Dr. Pudlat: Dublin hat damit weniger zu tun, das war vielmehr in Schengen von Beginn an angelegt. Ziel war es, im Inneren einen quasi grenzenlosen Raum zu schaffen, der sich aber nach außen gemeinsame Standards gibt. So wurden die Visa- und die Asylpolitik harmonisiert - und in Dublin konkretisiert. Es wurden viele Mechanismen geschaffen, die den Wegfall der Grenzkontrollen ausgleichen. Etwa die Möglichkeit für grenzüberschreitende Verfolgungsfahrten und Observationen oder die Zusicherung, den Drogenhandel intensiver zu bekämpfen. Genaueres wurde in bilateralen Polizeiverträgen geregelt. Die Standards für die Außengrenzsicherung und das Schengener Informationssystem haben aber durchaus für einige Menschen Festungscharakter.
Würde eine Vorverlagerung der Grenzformalitäten etwa in den nordafrikanischen Raum die Abschottungstendenzen verstärken?
Dr. Pudlat: Das ist eine Medaille mit zwei Seiten. Einerseits könnte ein derartiger Schritt verhindern, dass weiter so viele Menschen ihr Leben den Seelenverkäufern der Schlepper anvertrauen - und dabei umkommen. Auch Italien würde sich über die Entlastung von den Bootsflüchtlingen freuen. Andererseits verlagern wir Probleme lediglich, verdrängen es aus unserem Blickwinkel. Entsprechende Anlaufstellen müssten ja weiter die zum Teil abschottenden Asyl- und Einreisebestimmungen umsetzen. Dabei wäre ein derartiges Vorgehen nicht beispiellos. So hat Deutschland seit den 1950er-Jahren zahlreiche Abkommen mit seinen Nachbarn geschlossen, mit denen die Grenzabfertigung bereits auf dem Gebiet des anderen Staates ermöglicht wurde.
Könnte Europa mehr Verantwortung übernehmen, indem es nicht nur Passkontrollen in diese Länder exportiert, sondern auch Hoffnung?
Dr. Pudlat: Diese Chance besteht, wenn sich der Schengen-Raum nicht auf die polizeiliche Grenzkontrolle oder die Verhinderung des illegalen Grenzübertritts beschränkt, sondern der breiter gefassten Problematik des Migrationsdruckes gerecht wird. Schlagbäume werden dieses Problem nicht lösen. Um den Menschen einen Anreiz zu geben, dort zu bleiben, wo sie leben, müssen Konflikte gelöst werden, bevor sie zu Kriegen ausarten, müssen die Menschen die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu erarbeiten.
Warum wird die Errungenschaft der Reisefreiheit von den Völkern Europas so wenig geschätzt?
Dr. Pudlat: Wenn, dann hat das mehrere Gründe. Diejenigen, die reisen, konnten das auch vorher und profitieren davon, dass Schengen seit zwanzig Jahren in Kraft ist. Aber sie machen sich eben keine Gedanken mehr darüber, dass es mal eine Zeit gab, in der lange Wartezeiten an Grenzen normal waren. Die Errungenschaft verblasst, weil sie Alltag und selbstverständlich geworden ist. Wer aber grenznah lebt, wird Schengen wegen vermehrt wahrgenommener Straftaten, wie Autodiebstahl, möglicherweise weniger schätzen.
Zeigt dieses Verblassen im Alltag, dass sich das Elitenprojekt Europa endgültig von den einfachen Bürgern abgekoppelt hat?
Dr. Pudlat: Für Schengen passt das Etikett Elitenprojekt auf jeden Fall. Die Vorstufe von 1984, das Saarbrücker Abkommen mit Frankreich, hat Helmut Kohl sogar durchgesetzt, ohne die dafür zuständigen Ministerien zu informieren. Jedoch hatte diese Elitenidee von Anfang an die Stoßrichtung, Europa mehr zu einen und bürgerfreundlicher zu gestalten. Allerdings wurde der Versuch größerer Bürgernähe arrogant gestartet, ohne die Bürger vorab zu konsultieren. Die einst Abgekoppelten profitieren aber jetzt davon.
Was nützt die Reisefreiheit, wenn sich innerhalb Europas neue Gräben auftun zwischen Reich und Arm, Gläubigern und Schuldnern?
Dr. Pudlat: Nimmt man es genau, garantiert Schengen nicht die Reisefreiheit, sondern erleichtert sie nur, weil die Grenzkontrollen wegfallen. Wir diskutieren also lediglich über das eine Instrument Grenzkontrollen, das nicht geeignet ist, tiefe soziale Verwerfungen zu beheben, die Migrationsdruck auslösen. Dazu bedarf es einer geeigneten Sicherheits- und Wirtschaftspolitik und konkreter sozialer Angebote vor Ort.
Wird der europäische Traum von Reisefreiheit, Demokratie und Weltoffenheit stärker in den Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer und dem Maidan geträumt als in Europa?
Dr. Pudlat: Es macht den Eindruck. Das liegt auch daran, dass das Maß an Freiheit in Europa schon so hoch ist, dass wir es zum Teil nicht mehr zu schätzen wissen. Europäer sehen und diskutieren eher die Demokratiedefizite der Europäischen Union als deren Erfolge.
Ist die Weigerung Berlins, die Schlagbäume auch für Bulgarien und Rumänien zu heben, eine Sünde wider Schengen?
Dr. Pudlat: Die Weigerung ist noch vom Geiste des Abkommens gedeckt, in dem Sinne, dass Schengen sehr stark auf Vertrauen unter den Mitgliedsländern aufbaut. Fehlt der Glaube, dass Staaten ihre Aufgaben an den Außengrenzen erfüllen können, weil beispielsweise ihr Polizeiapparat noch nicht entsprechend ausgerichtet wurde oder sie der Korruption noch nicht Herr geworden sind, ist ein Veto legitim. Als neue EU-Mitglieder wurden Bulgarien und Rumänien 2007 automatisch Schengen-Anwärter. Sie haben, zumindest technisch, seitdem schon erhebliche Fortschritte gemacht. Etwa 20 EU-Staaten sind bereits der Überzeugung, dass sie Schengen-Reife aufweisen. Die Deutschen werden ihr Veto nicht ewig beibehalten können.
Wäre die Rückkehr der Schlagbäume ein geeignetes Mittel, um den Migrationsdruck zu lindern?
Dr. Pudlat: Nein. Wer verzweifelt genug ist, will hierher und kommt auch hierher. Schlagbäume würden nur die Möglichkeit erhöhen, Flüchtlinge an den Grenzen festzusetzen und anschließend zurückzuweisen oder zu verteilen. Letztendlich würde das Problem nur verlagert.
Brauchen die Einwanderungsregelungen einen liberaleren, europäischeren Geist?
Dr. Pudlat: Die Frage ist, ob es überhaupt einen europäischen Geist gibt. Die skandinavischen Staaten zeigen sich immer noch aufnahmebereiter als andere. Angesichts wachsender Zahlen von Kriegs- und Klimaflüchtlingen ist es jedenfalls an der Zeit, sich auf unsere europäischen Werte zu besinnen, die aber losgelöst von der EU sind. Den Menschen, die unsere Hilfe wirklich brauchen, müssen wir sie auch gewähren. Unabhängig von Schutzsuchenden müssen wir umdenken, zumal wir Einwanderung ohnehin brauchen. Wir brauchen eine Willkommenskultur.
In vielen Regionen Europas erstarken Sezessionisten. Wird sich die Zahl eifersüchtig verteidigter Grenzen in Europa wieder erhöhen?
Dr. Pudlat: Das glaube ich nicht. Zumal Schengen ohnehin die Grenzen nicht abgeschafft hat, sondern lediglich verblassen ließ. Selbst die starken sezessionistischen Bewegungen in Europa und die Rechtspopulisten würden trotz aller schärferen Akzentuierung des Nationalen die Schlagbäume nicht wieder zurückholen - schon allein aus wirtschaftlichen Gründen. Die hohen Kosten von Grenzkontrollen für die Unternehmen und die Staaten sind ein gewichtiger Faktor, dass die Ära der Schlagbäume wirklich der Vergangenheit angehört.
Das Interview führte Joachim Zießler
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