Landeszeitung Lüneburg: Angst vor der Kompromissunfähigkeit - Bernd Lange (SPD), Vorsitzender des Handelsausschusses des EU-Parlaments: Ceta-Gezerre legt Schwachstelle bloß
Lüneburg (ots)
Nach einem tagelangen Gezerre einigten sich die belgischen Regionen gestern darauf, welche Forderungen sie noch an das Ceta-Abkommen stellen. Zu spät für die feierliche Unterzeichnung des Freihandelspaktes mit Kanada. Bernd Lange, Vorsitzender des Handelsausschusses des Europäischen Parlamentes mahnt mehr Kompromissbereitschaft in Europa an: "Mit Kanada sollten wir uns einigen können; mit China wird man sich nicht auf Arbeitnehmerrechte einigen können."
In Sachen Ceta führte Europa gerade einen erbarmungswürdigen Kampf gegen seine Handlungsunfähigkeit. Haben die Briten recht mit ihrem Austritt aus der Gemeinschaft der Selbstsüchtigen?
Bernd Lange: Nein, weil der Brexit ebenfalls aus einer Haltung entspringt, die scheinbare nationale Interessen über Europa stellt und dabei mit Halbwahrheiten Stimmung macht. Aber das Symptom, das aufkommender Nationalismus und Regionalismus in Frage stellt, ist ernst zu nehmen. Hier müssen wir Widerstandskräfte entwickeln.
Wieso war die Zeit am Ende so knapp, um die Wallonen noch ins Boot zu holen?
Lange: In der Tat, da zeigte sich ein mehrschichtiges Problem. Zum einen haben wir hier einen starken innerbelgischen Konflikt und zum anderen eine Konfrontation zwischen Wallonien und der EU. Es hat nicht mehr so viel mit Kanada zu tun. Schade ist, dass die Wallonen so spät ihre Punkte, die ich zum Teil teile, eingebracht haben. Aber nun ist eine Einigung da, und das parlamentarische Verfahren im EP kann beginnen.
Sie haben in Sachen Ceta oft betont, wie eng Europa mit Kanada zusammenarbeitet. Mit wem wollen die Europäer noch Handel treiben, wenn schon gegenüber Kanada die Vorbehalte zu groß sind?
Lange: Nach wie vor ist Kanada der engste politische und wirtschaftliche Partner der Europäischen Union. Deshalb gebe ich das Projekt in Gänze auch noch nicht auf. Wir teilen Werte und Normen mit Kanada, starteten gemeinsame Initiativen etwa bei der Welthandelsorganisation und in der UNO. Es ist auch bemerkenswert, wie geduldig die kanadische Regierung angesichts der innereuropäischen Diskussionen bleibt. Auch das zeigt die besondere Qualität dieser Partnerschaft. Mit unserem engsten Partner sollten wir das wirklich hinkriegen, denn mit den Chinesen über Arbeitnehmerrechte diskutieren zu wollen, ist nicht wirklich erfolgversprechend.
Laut Lissabon-Vertrag fällt das Freihandelsabkommen in die Verantwortung der EU. Wieso lässt sie sich in diesem Punkt von den Nationalstaaten hineinregieren?
Lange: Bei derartigen Abkommen ist die Frage in Europa zunächst immer offen, ob sie wirklich allein in der Kompetenz der EU entschieden werden können oder ob doch Rechte der Nationalstaaten berührt werden. So wurde schon bei der Anlage des Ceta-Verhandlungsmandats 2009 geschrieben, dass vermutlich Kompetenzen der Mitgliedsländer berührt sind, so dass diese im Verhandlungsprozess beteiligt werden sollen. Und so gab es durchaus Möglichkeiten, zu intervenieren. Nebenbei bemerkt: 2011, als das Verhandlungsmandat für Ceta erteilt wurde, war Elio Di Rupo belgischer Ministerpräsident, der sich heute als Parteichef der Sozialisten in Wallonien lange querstellte. Für die Zukunft sollte man darüber nachdenken, bei den Befugnissen der Gemeinschaft und der Einzelstaaten die Trennschärfe zu erhöhen, um handlungsfähiger zu werden. Da jedes Handelsabkommen vom Europäischen Parlament angenommen oder verworfen wird, fehlt es nicht an demokratischer Kontrolle.
Würden mehr EU-only- statt gemischter Verträge die Macht des Europäischen Parlaments stärken?
Lange: Grundsätzlich hat das Parlament seit Lissabon eine starke Machtposition. So haben wir das Handelsabkommen mit Marokko abgelehnt, weil die Interessen der West-Sahara nicht berücksichtigt waren, und ebenso das ACTA-Abkommen gegen Produktpiraterie verworfen, weil dort zu viele Webfehler enthalten waren. Damals stellte sich das Parlament gegen die EU-Kommission, also die eigene Regierung, sowie 17 Partner weltweit - darunter die USA. Für die europäische Handelspolitik ist das demokratisch gewählte Korrektiv das Europäische Parlament.
Zeigt hier das Bundesverfassungsgerichtsurteil verhängnisvolle Folgen, das Deutschland quasi ein Veto-Recht zuschob?
Lange: Nein. Allerdings kann man schon mal hinterfragen, warum Karlsruhe nicht anerkennen zu vermag, dass das Europäische Parlament die demokratische Kontrollinstanz der Kommission ist. Eine alleinige Ausstiegsoption für Deutschland ist bei europäischen Verträgen natürlich nicht möglich.
Trägt auch ihr Parteigenosse Sigmar Gabriel Verantwortung für das Desaster, der das ausverhandelte Ceta-Paket noch mal aufschnürte, um innerparteiliche Kritiker zu besänftigen?
Lange: Nein, denn es ist das Recht von Regierungen und Parlamenten, mitzugestalten. Ich selbst habe schon im März gesagt, dass es bei Ceta Stärken, aber auch Schwächen gibt, die es nachzubearbeiten gilt. So war es meine Idee, mit Kanada eine gemeinsame, ergänzende Erklärung mit Klarstellungen zu formulieren.
Aber hat dies nicht in der Wallonie den Gedanken reifen lassen, da ginge noch was?
Lange: Das wäre dann aber die Rolle der belgischen Regierung. Alle 28 Regierungen haben ihre Anmerkungen für die gemeinsame Erklärung geliefert. Aber offenbar gibt es Kommunikationsstörungen zwischen der Wallonie und der Regierung in Brüssel, die vielleicht in den innerwallonischen Problemen begründet liegen. So gibt es dort eine linkspopulistische Partei, die mittlerweile 15 Prozent der Wählerstimmen bekommt.
Im Kern schien es der Wallonie um einen Ausgleich für den Wegfall der Jobs zu gehen, der die Region durch die Verlagerung der Caterpillar-Baumaschinen-Produktion nach Frankreich trifft. Kann die EU hier keine Nachhilfe in Sachen Kuhhandel geben?
Lange: Tatsächlich ist die ökonomische Situation in der Wallonie prekär. Früher trugen Stahl und Kohle die Region, heute gibt es nur noch Landwirtschaft und Waffenproduktion. Insofern sind die 2200 Arbeitsplätze bei Caterpillar schon entscheidend. Eine Verbesserung der Strukturen in Belgien ist überfällig, dafür gäbe es sogar Mittel aus dem Globalisierungsfonds der EU. Da darf man aber keinen Kuhhandel draus machen.
Liegt Ceta auch im Kühlschrank, weil die Diskussion allzu hysterisch verläuft? Ceta- und TTIP-Gegner malen nicht weniger als den Untergang der Demokratie an die Wand, falls diese Handelsabkommen umgesetzt werden.
Lange: Mehr Nüchternheit täte uns tatsächlich gut, gerade in den Punkten, in denen ich Kritik grundsätzlich nachvollziehen kann. Es scheint ein Grundproblem unserer Zeit zu sein, dass die Angst vor einem Kontrollverlust wächst, vor Prozessen, die im Hintergrund laufen, ohne dass sie der Einzelne beeinflussen könnte. Ob das nun die Globalisierung, die Digitalisierung oder die Finanzkrise betrifft. In der TTIP- und Ceta-Debatte wurde in dieser Hinsicht enorm draufgesattelt, auch mit Halbwahrheiten operiert. Die Rationalität blieb oft auf der Strecke. Gleichwohl muss die Politik diesem Unbehagen gegenüber anonymen Entwicklungen entgegenwirken, damit Menschen wieder Sicherheit empfinden und eine sichere Zukunft haben. Nur wenn die Politik national wieder Gestaltungskraft demonstrieren kann, lässt sich auch wieder global handeln.
Freihandelsverträge mit Japan oder Singapur bringen keine Demonstranten auf die Straße. Bricht sich hier Anti-Amerikanismus Bahn?
Lange: Das kann man nicht leugnen. Die US-Hegemonie beunruhigt viele Menschen so sehr, dass sie auch zum Argument gegen Ceta umgebogen wurde. "TTIP durch die Hintertür" lautet die Parole, der man mit Rationalität einiges an Kraft nehmen kann. Sicherlich gibt es einige Problemstellungen mit den USA gerade in der Handelspolitik. Dennoch ist dies ein demokratischer Partner, mit dem man vernünftig umgehen muss.
Wie groß ist die Freude in China, dass sich der Westen über seine Handelspolitik derart spaltet?
Lange: Die wird schon groß sein, gerade weil China sich selbst derzeit nicht in einer Position der Stärke sieht. Wir haben einige Problemfelder mit China zu beackern, vom Subventionsmissbrauch bis hin zu Dumpingpreisen. Da wird in Peking schon aufmerksam registriert werden, wie uneinig der Westen derzeit ist.
Wie groß ist der Imageschaden Europas?
Lange: Der ist schon erheblich. Andere potenzielle Partner, etwa Japan oder die ASEAN-Gruppe, blicken verwundert auf Europa. Wenn es keine vernünftigen Mechanismen gibt, die die verschiedenen Interessen in der EU während des Entscheidungsprozesses einfließen lassen, damit am Ende ein akzeptierter gesellschaftlicher Kompromiss steht, könnten auch andere Partner auf die Idee kommen, dass man mit den Europäern nicht mehr rechnen muss. Die entscheidende Frage ist: Sind wir in Europa noch fähig, Kompromisse zu schließen, die dann auch von den Minderheiten akzeptiert werden? Davon lebt die EU. Aber diese Fähigkeit zum gesellschaftlichen Kompromiss wird stark von links- und rechtspopulistischen Bewegungen in Frage gestellt. Das eigentliche Problem ist aber nicht das Projekt EU, sondern der aufkommende Nationalismus in den Mitgliedstaaten.
Das Interview führte
Joachim Zießler
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