Landeszeitung Lüneburg: Der Trend geht in die Mitte - Parteienforscher Prof. Lothar Probst sieht Verschiebungen in Parteienlandschaft nicht so dramatisch wie bei den Nachbarn
Lüneburg (ots)
Wann begann Krafts Ansehen zu erodieren, in der Silvesternacht 15/16?
Prof. Lothar Probst: Die beste Zeit von Kraft und ihrer Koalition war in der Minderheitsregierung zwischen 2010 und 2012 bevor es zur vorgezogenen Neuwahl kam. Mit wechselnden Mehrheiten hat die rot-grüne Minderheitsregierung zunächst eine Aufbruchstimmung in NRW erzeugt. Nach dem hohen Wahlsieg 2012 ging es nach und nach bergab. Immer mehr Probleme stauten sich auf, die die Regierung nicht in den Griff bekam. Mehrfach hat der Landesgerichtshof auf Antrag der Opposition den Haushaltsentwurf der Regierung gestoppt. Hinzu kamen wachsende Probleme in der Verkehrsinfrastruktur und in der Schulpolitik. Eines der größten Probleme aber war, dass die Landesregierung sich bei der Inneren Sicherheit eine Panne nach der nächsten geleistet hat. Symptomatisch dafür waren die Silvesterereignisse 2015/16. Als es darauf ankam, die Versäumnisse der Polizei und der Landesregierung aufzuarbeiten, ist Hannelore Kraft auf Tauchstation gegangen. Das hat ihrem Ruf als Kümmerin und Landesmutter geschadet.
Statt einer Gerechtigkeitslücke scheinen die Bürger eher eine Sicherheitslücke zu spüren. Muss Schulz bis September das Thema Innere Sicherheit bespielen, um eine Chance zu haben?
Probst: Der Wahlkampf wird sich voraussichtlich auf zwei Dimensionen von Sicherheit konzentrieren: auf Innere Sicherheit und soziale Sicherheit. Die Unionsparteien setzen offensiv auf das Thema Innere Sicherheit und sind damit erfolgreich, Martin Schulz hat bisher hauptsächlich über soziale Sicherheit geredet, allerdings ohne sehr konkret zu werden. Angesichts der relativ stabilen ökonomischen Lage in der Bundesrepublik, hat er damit bisher noch nicht punkten können. Wer im Bundestagswahlkampf erfolgreich sein will, muss jedoch beide Dimensionen von Sicherheit abdecken und dazu akzeptable Vorschläge vorlegen. Insofern muss Martin Schulz, wenn er noch eine Chance haben will, in dieser Hinsicht nachlegen.
Ist es positiv, dass auch eine etablierte Partei von dem Gefühl der Verunsicherung der Bürger profitieren kann und nicht nur die AfD?
Probst: Wir beobachten im Moment wieder eine Tendenz der Wählerinnen und Wähler zur Mitte. Die beiden Parteien am linken und rechten Rand sind bei den letzten Wahlen deutlich hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben. Das liegt auch daran, dass die Bürger in Zeiten der Verunsicherung, ausgelöst durch internationale Krisen und Herausforderungen, sich wieder den Parteien und Politikern zuwenden, die Erfahrung mit der Bewältigung von Krisen haben. Das ist ein unschätzbarer Vorteil von Angela Merkel, zu deren ruhiger Art des Krisenmanagements in unsicheren Zeiten die Bürger Vertrauen haben.
Die CDU hat viele vormalige Nichtwähler für sich mobilisiert - ein Votum gegen Kraft oder für Laschet?
Probst: Die hohe Zahl von Nichtwählern, die die Union mobilisieren konnte, hat auf jeden Fall entscheidend zum Wahlsieg der CDU beigetragen. Aber sogar die SPD hat, trotz ihrer Verluste an andere Parteien, Nichtwähler in erheblichem Umfang gewinnen können. Lange Zeit glaubte man, dass hauptsächlich die AfD Nichtwähler mobilisiert, aber der Trend hat sich inzwischen zugunsten der Volksparteien gedreht. Die Bürger interessieren sich wieder mehr für Politik und nicht zuletzt deshalb ist die Wahlbeteiligung bei allen Landtagswahlen in den letzten beiden Jahren gestiegen. NRW ist immer noch eine Art Politlabor. Entindustrialisierung, Strukturwandel, Migration sind Themen, die dort früher durchschlagen als im Rest der Republik. Sieht die SPD einem ähnlichen Absturz überall entgegen?
Probst: Die Wählerschaft der SPD erodiert stärker als bei den Konservativen. Das Milieu, dass die SPD lange Zeit getragen hat, ist kleiner geworden. Menschen in prekärer Beschäftigung wählen gar nicht oder auch die AfD bzw. die LINKE, und die wachsende Gruppe von Beamten, Angestellten und Selbstständigen ist hart umkämpft zwischen allen demokratischen Parteien, also einschließlich Grüne und FDP.
Die Verankerung der SPD in der Kernklientel, der Arbeiterschaft, scheint spätestens mit Hartz IV gelöst worden zu sein. Bleiben andere Schichten der SPD weitgehend verschlossen?
Probst: Der SPD ist es auf Bundesebene bei den letzten Bundestagswahlen kaum noch gelungen, über ihre Kernwählerschaft hinaus Menschen für ihre Politik zu begeistern. Mit Martin Schulz ist die Hoffnung aufgekeimt, dass das zur Bundestagswahl 2017 zum ersten Mal wieder gelingen könnte. Aber jetzt ist der Schulz-Effekt erst einmal verpufft, und die SPD muss sich zur Bundestagswahl etwas einfallen lassen, um doch noch einmal durchzustarten und neue Wählerschichten hinzuzugewinnen. Es muss klarer werden, was Martin Schulz will. Ohne die Verbindung des Themas soziale Sicherheit mit wirtschaftlicher Kompetenz, ohne glaubwürdige Positionen in der Inneren Sicherheit und ohne europapolitische Initiativen, die sich von dem Kurs der Unionsparteien abgrenzen, wird es Martin Schulz schwer haben, bis zur Bundestagswahl auf Augenhöhe mit der Kanzlerin zu bleiben.
Die Grünen wurden für ihre Schulpolitik abgestraft, fanden im verödenden Norden des Ruhrgebietes mit Öko-Themen auch keinen Anklang. Haben die Grünen die richtigen Antworten auf die Angst vorm Waldsterben, nicht aber auf die Angst vor der Globalisierung?
Probst: Ich denke, dass die Grünen eine Reihe von Dingen falsch gemacht haben. Sie haben sich in NRW offensichtlich nicht nur mit der Inklusion übernommen, die nicht so funktioniert hat, wie es versprochen worden war, sondern sie haben es auch nicht geschafft, ökologische Themen so zu präsentieren, dass sie mit anderen Zukunftsprojekten, z.B. der Digitalisierung, verbunden werden. Die Globalisierung erfordert neue Antworten, bei den Grünen klingt aber häufig vieles noch so, wie vor 10 Jahren. Zum Thema Innere Sicherheit hatten sich kaum etwas Konkretes beizusteuern, obwohl es für viele Wähler eine ganz wichtiges Thema war.
Ist Seehofers Kritik an Merkels abwartender Art durch den Merkel-Effekt widerlegt?
Probst: Seehofers permanente Kritik an Merkel war für die Unionsparteien in der Vergangenheit in jedem Fall kontraproduktiv. Dass es jetzt, wo der parteiinterne Streit beigelegt wurde, wieder aufwärts geht, zeigt ja, dass der Union Geschlossenheit nutzt. Arnim Laschets Wahlerfolg verdankt sich meines Erachtens aber nicht einem Merkel-Effekt, sondern der Unzufriedenheit mit der rot-grünen Landesregierung. Er hat jedoch bewiesen, dass man auch dann Wahlerfolge erzielen kann, wenn man loyal zur Merkels Politik steht und diese verteidigt. Das war übrigens auch bei Annegret Kramp-Karrenbauer und Daniel Günther der Fall.
Ist das Comeback der FDP abhängig von starken Kandidaten wie Lindner oder Kubicki oder ein Comeback des Liberalismus generell? Probst: Vor allem Lindner hat es verstanden, der FDP ein neues Image zu geben und wegzukommen von der reinen Steuersenkungs- und Funktionspartei. Er und Kubicki spielen sicherlich eine wichtige Rolle bei der geplanten und durchaus wahrscheinlichen Rückkehr in den Bundestag, aber ob damit schon ein generelles Comeback des Liberalismus verbunden ist, muss man erst einmal abwarten. Da bin ich noch ein bisschen skeptisch. Es kommt darauf, ob die FDP dieses Mal mehr aus ihrem Aufschwung machen kann als unter Westerwelle.
Die AfD ist in 13 von 16 Landesparlamenten vertreten. Könnte nur eine weitere Spaltung der Partei ihren Aufstieg bremsen?
Probst: Der Aufstieg ist schon gebremst, wenn man sich die letzten Wahlergebnisse und die Umfragen zur Bundestagswahl anschaut, aber es reicht immer noch, um sich im Parteiensystem der Bundesrepublik zu etablieren. Vermutlich wird man bis zur Bundestagswahl die Widersprüche in der Parteiführung erst einmal zurückstellen, um einen Wahlerfolg nicht zu gefährden, aber mittelfristig ist eine weitere Spaltung nicht ausgeschlossen. Die Unionsparteien machen jetzt auch mit den Themen der AfD zum Teil Wahlkampf - damit holen sie möglicherweise auch wieder Wähler von der AfD zurück.
CDU und SPD sind mit über 30 Prozent noch als Volksparteien anzusprechen. Ist die deutsche Parteienlandschaft auf Dauer stabiler oder stehen uns Verschiebungen wie in GB, den Niederlanden, Österreich und Frankreich noch bevor?
Probst: Im Vergleich zu andern Ländern ist das Parteiensystem in Deutschland relativ stabil, obwohl es im Laufe der Zeit mehr Parteien gelungen ist, in die Parlamente einzuziehen. Nach Grünen und der Linken scheint es ja jetzt auch der AfD zu gelingen, sich dauerhaft im Parteiensystem festzusetzen. In welche Richtung sie sich dabei mittelfristig entwickelt, ist noch unklar. Durch immer mehr Parteien in den Parlamenten ist die Koalitionsbildung zwar schwieriger geworden, aber durch mehr Flexibilität der Parteien bei der Suche nach Mehrheiten gelingt es trotzdem, funktionsfähige Regierungen zu bilden. Wir haben insofern in Deutschland zwar einen moderaten Wandel, aber keine dramatischen Verschiebungen wie in anderen Ländern. Von Joachim Zießler
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