Landeszeitung Lüneburg: Wir fremdeln gar nicht - sagt Ska Keller, Grünen-Fraktionschefin im Europaparlament, und fordert mehr Polizei statt mehr Videoüberwachung
Lüneburg (ots)
Wieder ist Großbritannien Schauplatz eines islamistischen Anschlags. Ist Europa stark genug, um im Wechselspiel zwischen Dschihadismus und Rechtspopulismus seine Werte zu bewahren?
Ska Keller: Stark genug ist es auf jeden Fall. Die Frage ist, ob wir unsere Stärken nutzen. Zunächst mal gilt es, ganz konkrete Schwachpunkte zu beheben. So waren islamistische Gefährder in der Vergangenheit zwar oft im Nachbarland bekannt, doch das gab die Informationen nicht weiter. Da müssen die europäischen Staaten bereit sein, die Stärke des Austauschs von Erkenntnissen zu nutzen. Um dem Aufstieg der Rechtsnationalisten zu begegnen, die derartige Anschläge nutzen, um Wasser auf ihre Mühlen zu leiten, müssen wir anfangen, für Europa zu streiten. Lange Zeit herrschte eine Haltung vor, nach der Europa ein Selbstgänger sei. Mittlerweile haben wir gelernt, dass Europa mitnichten selbstverständlich und unzerstörbar ist. Ermutigend ist, dass immer mehr Menschen in den "Pulse of Europe"-Demos ihre Zustimmung zum Projekt der europäischen Einigung bekunden. Angesichts so vieler Herausforderungen, die man nur gemeinsam angehen kann - Migration, Klimawandel, Terrorismus, Globalisierung - erkennen immer mehr Menschen, dass es die EU mehr als jemals zuvor braucht.
Welche Rolle können die Grünen dabei spielen? In Umfragen billigen die Bürger ihnen zwar die richtigen Antworten auf den Klimawandel zu, nicht aber auf die Angst vor Terror oder Globalisierung.
Keller: Weil der Klimawandel eine derart existenzielle Frage ist, freue ich mich, dass Bürger uns in diesem Punkt etwas zutrauen. Aber bei dem Rest müssen wir aufholen. Da arbeiten wir auch stark dran. So haben wir in Sachen Globalisierung viele einzelne Antworten, positionierten uns etwa früh gegen TTIP und CETA als unfaire Modelle und stehen ein für soziale Gerechtigkeit. Aber wir müssen das stärker als Gesamtkonzept darstellen. Soziales und Umwelt müssen zusammen gesehen werden, denn: Wer muss an lärmigen und verdreckten Straßen leben? Wer kann sich den Bio-Supermarkt leisten?
Kann sich eine Partei in Zeiten des Terrors den Luxus erlauben, mit dem Thema innere Sicherheit zu fremdeln?
Keller: Wir fremdeln gar nicht, haben nur andere Antworten. So lehnen wir den reflexartigen Ruf etwa aus der Union nach mehr Videoüberwachung als sinnlos ab. Man sammelt Unmengen von Daten von unbeteiligten Passanten oder auch Fluggästen, die kaum ausgewertet werden können, und weder die Straftat noch der Terroranschlag werden verhindert. Relevant sind die Daten über Personen, die bereits als Straftäter oder als gefährlich bekannt sind. Da fehlt es aber an Personal, diese Menschen zu überwachen. Hier wie auch bei einer besseren Prävention liegen die Möglichkeiten, effizient gegen Terror vorzugehen.
War es kein Fremdeln, dass Grünen-Parteichefin Peters nach der Kölner Silvesternacht 16/17 zunächst Polizeischelte betrieb? Empathie für die Verunsicherten nach der Schmach sieht doch anders aus....
Keller: Es ist wichtig, auf die Verunsicherung der Menschen einzugehen, so wie wir Grünen das machen, indem wir eine Stärkung der Polizei fordern. Hier muss der Abbau der vergangenen Jahre zurückgedreht werden. Genauso wichtig ist aber auch, Defizite polizeilicher Arbeit aufzuzeigen, wozu racial profiling gehört. Diskriminierung von Minderheiten verstärkt nur die Unsicherheit.
Der Puls Europas schlägt in vielen Städten bei Demonstrationen wieder, Macron hat den Marsch Le Pens in den Élysée vorerst verhindert, Van der Bellen in Österreich den FPÖ-Aufstieg gebremst. Beleben die rechtspopulistischen Schocks den Europa-Gedanken neu?
Keller: Ich denke, ja. So hat gerade der Brexit gezeigt, dass Anhänger Europas sich selbst einbringen müssen. Auch die Wahl Trumps hat vielen in Europa verdeutlicht, dass vermeintlich Selbstverständliches - Frauen-, Minderheiten- und soziale Rechte - schnell zu kippen ist. Nötig wäre nun auch ein europapolitischer Schwenk der Bundesregierung. Weg von der rigiden Austeritätspolitik, hin zu Investitionen und Reformen. In Ländern wie Griechenland oder Spanien entstehen ganze Generationen ohne Perspektive. Wir müssen aufpassen, dass das nicht verlorene Generationen werden.
Wo sie in Deutschland in Regierungsverantwortung sind, haben die Grünen Abschiebungen in den afghanischen Krieg verhindert. Wie sieht das grüne Konzept für eine europäisch-deutsche Einwanderungspolitik aus?
Keller: Gerade der jüngste Mord an der deutschen Entwicklungshelferin hat gezeigt, wie unglaublich wichtig es ist, Abschiebungen nach Afghanistan zu verhindern. Unser Fokus liegt zumeist auf europäischen Opfern, der alltägliche Terror gegen die Afghanen selbst wird dabei oft übersehen. Flüchtlingspolitik lässt sich nicht steuern. Wer flieht, muss Schutz finden. Dabei ist zentral, die Fluchtursachen anzugehen - aber nicht einfach. Wie soll etwa der Krieg in Syrien gestoppt werden? Es gilt, legale Zugangswege zu schaffen, damit die Menschen nicht mehr in die Schlauchboote steigen müssen. Außerdem muss eine faire Verteilung zwischen den EU-Staaten geregelt und einheitliche Standards gesetzt werden. Einwanderungspolitik dagegen kann man steuern. Hier brauchen wir transparente und faire Einwanderungskriterien. Es kann nicht sein, dass wir die besten Köpfe abziehen ohne Rücksicht auf die Herkunftsländer.
Sie haben in der Türkei studiert. Muss Europa die Türkei in der Ära Erdogan verloren geben?
Keller: Auf keinen Fall. Knapp 50 Prozent der Türken sind gegen die Machterweiterung von Erdogan, gehen für ihre Rechte auf die Straße oder hungerstreiken, um gegen die Säuberungen zu protestieren. Diese Menschen dürfen wir nicht hängen lassen. Aber Europa - und gerade die Bundesregierung - muss gegenüber Erdogan anders auftreten als bisher. Beitrittsgespräche zu führen, ohne eine echte Perspektive zu bieten, hat zu einer ungeheuren Enttäuschung geführt - die Erdogan zu nutzen verstand. Fatal ist auch der sogenannte Flüchtlingsdeal, der kein verbindliches Abkommen ist, sondern lediglich eine Pressemitteilung. Mit diesem Deal hat sich die EU abhängig von Erdogan gemacht. Zudem ist schon der Grundgedanke irrwitzig, dass ein Europa, das mit seinen Flüchtlingen nicht klarkommt, der Türkei, die schon mehr als zwei Millionen beherbergt, noch weitere aufbürdet. Dabei hat Europa einen Hebel in der Hand, die Erweiterung der Zollunion unter anderem auch auf Dienstleistungen. Daran hat Ankara ein großes Interesse. Diese Erweiterung sollten wir nicht zulassen, bevor sich die Lage der Menschenrechte nicht verbessert. Wann sollte die EU die Beitrittsgespräche abbrechen?
Keller: Die Einführung der Todesstrafe ist die rote Linie. Da sind wir uns auch im europäischen Parlament einig.
Die Wahlen in Schleswig-Holstein brachten für die Grünen einen Erfolg, in NRW wurden sie hingegen halbiert. Welche Lehren müssen die Grünen aus diesen Ergebnissen ziehen?
Keller: Die gegenläufigen Ergebnisse haben natürlich viel mit den jeweiligen Landesthemen zu tun. Bei der Bundestagswahl ist es für uns zentral, klarzumachen, wofür wir stehen und was keinesfalls mit uns zu machen ist. Die grüne Idee ist aktueller denn je, wie Klimawandel und Dieselskandal unterstreichen. Wir müssen unsere grüne Kernidee mit dem Sozialen verknüpfen und verdeutlichen, dass wir für eine offene Gesellschaft eintreten.
In Kiel hat die FDP eine mögliche Ampel ausgeknipst, in NRW ist Rot-Grün abgewählt worden. Müssen Sie sich mit Jamaika anfreunden? Eine Schnittmenge mit der FDP könnte eine liberale, weltoffene Gesellschaft sein.
Keller: Prinzipiell gibt es in dem Punkt tatsächlich Übereinstimmungen, allerdings muss ich mich angesichts der Töne von Parteichef Christian Lindner, der gefordert hat, dass Mesut Özil die Nationalhymne mitsingt, schon fragen, wo die alte Bügerrechtspartei geblieben ist. Und mit der FDP wäre auch nur schwer eine sozialere Politik zu machen, in der die Globalisierung die Menschen mitnimmt, statt ganze Regionen ohne Jobs veröden zu lassen. Eine robuste Sozial- und Arbeitsmarktpolitik kann ich mir bei der FDP nur schwer vorstellen. Wenn die FDP offene Gesellschaft sagt, meint sie meist offene Märkte.
Das Gespräch führte Joachim Zießler
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