Landeszeitung Lüneburg: Feuerprobe für die Demokratie Der Parteienforscher Gero Neugebauer warnt CSU im Interview vor Rechtsruck aus Angst vor der AfD und fürchtet um Grüne
Lüneburg (ots)
Von Joachim Zießler
Eine rechtsnationale Partei war zuletzt in der Frühzeit der Republik im Parlament. Ist die Immunisierung der Deutschen gegen völkisches Denken durch die Aufarbeitung der NS-Verbrechen ausgelaufen? Dr. Gero Neugebauer: Völkisches Denken hatte in der jungen Bundesrepublik noch bis in die 50er- und frühen 60er-Jahre seinen Platz in der politischen Landschaft. Dann verschwand der "Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" und die "Deutsche Partei" wurde von der Union aufgesogen. Reste wurden in der NPD wiederbelebt, fanden aber nie den Zuspruch, um sich im Bundestag etablieren zu können. Noch vor der Jahrtausendwende erwischte es dann auch "Die Republikaner" in ihrer Hochburg Baden-Württemberg. Dann aber zogen NPD und DVU zeitweilig in ostdeutsche Landesparlamente ein und beschädigten die Hoffnung, dass die Erinnerungskultur völkisch-fremdenfeindliches Denken zu einem abgeschlossenen Kapitel in der Ideologie deutscher Parteien gemacht hat. Diese Hoffnung ist nun zerstoben, zumal die AfD starke Brückenköpfe im Rechtsextremismus hat. Freundlich gewendet könnte man sagen, sie ist eine nationalkonservative, fremdenfeindliche Partei mit wirtschaftsliberalen Positionen. Betrachtet man die erste Reihe der Partei, so wandern diese Vertreter stark nach rechts ins Völkische, gaukeln sich zudem vor, eine nationale Systemalternative zu sein, die die Demokratie selbst verändern könnte. Ist eine selbsternannte nationale Systemalternative aus europäischer Perspektive nur ein Zeichen für Normalisierung? Unsere Nachbarn wählen zum Teil seit Jahrzehnten entsprechende Parteien. Dr. Neugebauer: Es ist in der Tat eine Annäherung an europäische Verhältnisse. Die Verzögerung lag an der lange relativ lebendigen Erinnerung an die NS-Verbrechen sowie am Fehlen von politischen Unternehmern mit Charisma und Geld, die sich Anhängerschaft erkaufen konnten.
Die Kanzlerin selbst sieht in ihrer Person einen Grund für die Polarisierung. Wie groß ist ihre Verantwortung für das Wahlergebnis? Dr. Neugebauer: Als die Kanzlerin 2015 "Willkommen" sagte, hat sie sicherlich vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen, die angesichts des sichtbar gewordenen Elends der Flüchtlinge meinten, das könne nicht so weitergehen. Ihr Fehler war weniger - wie Martin Schulz meint -, nicht vorab die EU-Partner ins Boot geholt zu haben, denn das hätte viel zu lange gedauert. Ihr Fehler war, keine Aktion wie 2008 in der Finanzkrise zu wiederholen, als sie sich mit Peer Steinbrück hingestellt hatte, um zu sagen, dass sie die Einlagen der deutschen Sparer schützen wolle. Analog hätte sie sich zusammen mit Gewerkschaften, Kirchen, Unternehmen dafür starkmachen müssen, sich dieser schweren Aufgabe zu stellen. Gut wäre auch die Botschaft von Polizei und Aufnahmeeinrichtungen gewesen: "Wir sind gewappnet." Der Unmut speiste sich aus unterschiedlichen Quellen. Der Sorge, ausgenutzt zu werden, der Angst vor einer Kultur, die die eigene Identität beschädigen könnte, das Unbehagen, zu viel vom eigenen Wohlstand abgeben zu müssen. Merkel wurde dieses Unmuts auch nicht Herr, weil die Union die Kanzlerin in diesem Punkt nicht geschlossen unterstützt. Und da auch SPD, Grüne und Linke keine tragfähigen, originellen Lösungen lieferten, entstand der Raum, in dem sich die AfD entwickeln konnte. So hat Merkel einerseits dafür gesorgt, dass das Bild Deutschlands sich veränderte hin zu einem Land mit humanitärem Antlitz, und dass anderseits Sorgen entstanden, die sich zu Wut und Hass aufschaukelten.
Zu viel Wut attestiert die scheidende Parteichefin Frauke Petry der AfD. Droht der AfD die nächste Abspaltung eines gemäßigteren Flügels? Dr. Neugebauer: Das vermute ich. Auch wenn ich Schwierigkeiten habe, Frau Petry als gemäßigt anzusehen, hat sie doch einen anderen Anspruch - sie will Merkel nicht "jagen", sondern auf lange Sicht Regierungsverantwortung tragen. Ich erwarte, dass ihre Anhänger ihr folgen werden. Hätte sie ihren Schritt als Einzelperson ohne Absicherung gemacht, wäre es ein strategischer Fehler.
Wird der Druck auf der Straße nachlassen, weil die Wut der Sozialverlierer nun eine Stimme im Parlament hat oder bringt dieser Rechtsruck die Demokratie auf die schiefe Ebene? Dr. Neugebauer: Wir haben eine vergleichbare Erfahrung aus dem Jahr 2003, als die Linke den Protest gegen die Agenda 2010 vereinnahmte und lange davon profitierte. Die Wut, die sich gegen die Flüchtlingspolitik richtet, wird größtenteils erhalten bleiben. Manche AfD-Wähler werden aber auch damit zufrieden sein, eine Partei gefunden zu haben, die ihre Wut artikuliert. Das ist eine Bewährungsprobe für die deutsche Demokratie. Im Parlament muss sich erweisen, ob die Parteien dieser Herausforderung gewachsen sind. Lediglich unisono zu antworten, würde der Vielfalt der vertretenen politischen Ansichten nicht gerecht werden. Wer aber glaubt, nun selbst nach rechts rücken zu müssen, wie einige CSU-Granden, hält den einen Schritt am Rande des Abgrunds fälschlicherweise für einen Fortschritt.
Ist die SPD verantwortungslos, wie Kubicki meint, oder hat sie endlich die Lehren gezogen aus den missglückten Juniorpartnerschaften 2005, 2009 und 2013? Dr. Neugebauer: Herr Kubicki ist nur sauer, dass die SPD der FDP ein Alibi genommen hat, selbst keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Tatsächlich trifft die zweite Fragenhälfte zu. Die SPD beginnt zu erkennen, dass sie über lange Zeit weder programmatisch noch personell ein attraktives Angebot vorgelegt hat und dass sie seit Jahren ihre Stammwähler verliert, weil sie als Juniorpartner von Merkel nicht punkten kann. Entweder hatte sie Projekte, die die sozialdemokratische Seele betrüben, wie die Rente mit 67, oder solche mit denen sie sich nicht ausreichend von der CDU absetzen konnte, die sich modernisierte, indem sie schamlos im sozialdemokratischen Revier wilderte. In ihrer Harmoniesucht hat sich die SPD dies allzu lange gefallen lassen, mit dem Effekt, dass ihre Identität in Gefahr ist. An diesem Punkt kann die Parole nicht mehr gelten: "Erst das Land, dann die Partei!" Wenn eine Partei kein Land mehr sieht, muss sie auf die Partei gucken.
Wird die SPD unter Schulz und Fraktionschefin Nahles nach links rücken? Dr. Neugebauer: Frau Nahles zur Fraktionschefin gemacht zu haben, ist eine zweischneidige Entscheidung. Als langjährige Arbeitsministerin wird sie künftig immer als Komplizin der Vorgängerregierung angesprochen werden. Bisher hatte sie ein gutes Verhältnis zu Angela Merkel, insofern ist offen, ob sie die nötige Schärfe aufbringt, falls die Kanzlerin häufiger den Bundestag besucht als bisher. Für mich kann Frau Nahles nur den Übergang zwischen der alten und der noch nicht erkennbaren neuen SPD moderieren. Problematisch ist aber auch, dass die SPD mit Andrea Nahles den alten Fehler wiederholt, ihre Klientel mit einem ständig wechselnden Personalangebot zu irritieren. Personen sind für die Wähler, die sich nicht sehr für Politik interessieren, die Brücken zu den Parteien. Erst fasst man Vertrauen zu einem Menschen und damit dann auch zu seiner Partei. Wenn Martin Schulz seiner Partei wirklich eine Machtperspektive verschaffen wollte, hätte er als Fraktionsvorsitzender im Parlament Gegenpositionen beziehen und Kontakt zu der Linken aufbauen sollen.
Horst Seehofer stellte vorübergehend die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU infrage. Theaterdonner oder treibt die CSU in ihrem Bestreben, die offene rechte Flanke zu schließen, weg von der Merkel-CDU? Dr. Neugebauer: Horst Seehofer wollte vermutlich seinen Titel "Schalk des Jahres" rechtfertigen. Ich vermute, dass der CSU-Chef vom Wahlergebnis seiner Partei so überrascht worden ist, dass er panisch reagierte. Letztendlich ist die CSU mehr von Bayern gewählt worden, die eher Merkels Position in der Flüchtlingspolitik teilen und nicht die von Seehofer. Wenn er den Druck in Sachen Flüchtlings-obergrenze aufrechterhält, wird die Entfremdung zunehmen und die CSU 2018 bei den Landtagswahlen erheblich Stimmen verlieren. Wie realistisch ist es, dass die CSU in dieser Situation eine Jamaika-Koalition eingeht, in der sie die Obergrenze gegen Merkel, Grüne und FDP kaum wird durchsetzen können? Dr. Neugebauer: Seehofer braucht die Unterstützung der Kanzlerin im Landtagswahlkampf. Er wird deshalb diese Koalition akzeptieren. Mehr als eine nebulöse Formel in Richtung Obergrenze wird er nicht bekommen.
Die FDP hat Widerstand gegen einen Euro-Finanzminister angekündigt. Wird Berlin künftig Bremser für Macrons Reformpläne sein? Dr. Neugebauer: Die FDP-Aussagen decken sich weitestgehend mit denen aus der Union zu diesem Thema. Das hätte für die Regierung den Vorteil, dass sie von Paris nicht als leicht auseinanderdividierbar wahrgenommen wird. Als Reaktion dürfte Ma-cron allerdings eine Allianz der Mittelmeerländer schmieden, um den Druck auf ein Deutschland zu erhöhen, das mit Großbritannien einen wichtigen Verbündeten verliert.
Droht Merkel ein bitteres Ende, weil Jamaika früh scheitern könnte? Dr. Neugebauer: Solange Frau Merkel ihre Fähigkeit verfeinert, Koalitionen über die Überzeugung zusammenzuhalten, dass ein Ausscheren den Abtrünnigen bestraft, kann Jamaika stabil laufen. Ein Erlkönig-Ende ist denkbar: "Sie erreicht den Hof mit Müh und Not, in ihren Armen das Kind war tot." In der schwarz-roten Koalition starb die SPD, bei Jamaika könnten es die Grünen sein.
Zur Person
Der renommierte Parteienforscher Gero Neugebauer war bis 2006 Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin. Ein Schwerpunkt des Politologen ist die Parteienforschung, insbesondere die SPD-Entwicklung in den östlichen Bundesländern.
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