Landeszeitung Lüneburg: Als Fieber die Welt schüttelte - Arzt und Historiker PD Dr. Wilfried Witte: Die Spanische Grippe vor 100 Jahren war die tödlichste Seuche - und wurde vergessen
Lüneburg (ots)
An keiner Seuche starben mehr Menschen als an der Spanischen Grippe. Wieso spielt sie in unserem kollektiven Gedächtnis eine viel schwächere Rolle als etwa die Pest?
Privatdozent Dr. Wilfried Witte: Die Pest wütete häufiger über längere Zeiträume und stieß tiefgreifende gesellschaftliche Änderungen an. Sie hat sich langsam, über Jahrhunderte ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Das Extrembild der Pest war den Menschen immer dann wieder präsent, wenn etwas Ungeheuerliches passierte. So glaubten auch 1918 Menschen, es mit dem "Schwarzen Tod" zu tun zu haben, weil sich die Haut von Grippe-Infizierten infolge von Sauerstoffmangel tiefblau bis schwarz gefärbt hatte. Eine deutsche Forschergruppe wurde damals an die Schweizer Grenze geschickt, um das zu untersuchen. Die Spanische Grippe ebbte einerseits zu schnell ab, um als Schreckbild mit der Pest gleichzuziehen. Sie vollzog sich in den meisten Ländern in den Jahren von 1918 bis 1920 in drei Wellen. Die eigentlich tödliche Welle war die im Herbst 1918, der Seuchenzug vollzog sich dabei rasend schnell innerhalb von zwei Monaten. Und das auch noch in einer Zeit, die in der Wahrnehmung von anderen Dingen geprägt war. Die Trommelfeuer an den Fronten des Ersten Weltkriegs konfrontierten die Menschen mit unzähligen Gefallenen, extremen Entstellungen, neuen neurologischen Phänomenen wie den "Kriegszitterern" und Hungersnöten in der Heimat. Im Kaiserreich überlagerte beispielsweise die Erörterung des Nahrungsmangels die der Grippe. Die Krankheit tauchte als etwas Rätselhaftes auf. Mediziner gerieten in Erklärungsnotstand, weil diese Epidemie so ungleich verheerender verlief als vorherige. Es gibt zwar noch heute lesenswerte minutiöse Beschreibungen der Symptome, bei den Ursachen oder möglichen Gegenmitteln tappte man aber im Dunkeln.
Machte der Hunger das Virus tödlicher, weil die Menschen ausgezehrt waren?
Witte: Es ist zwar plausibel, einen Zusammenhang anzunehmen, weil derartige Umweltfaktoren immer die Virulenz eines Erregers beeinflussen, aber beweisen lässt sich das im Nachhinein nicht. Andererseits konnte die oft gestellte Frage, ob der Verlauf des Ersten Weltkriegs samt Revolutionsgeschehen am Ende substanziell von der Pandemie beeinflusst worden ist, nicht befriedigend beantwortet werden. Bekannt ist beispielsweise, dass der amerikanische Präsident Woodrow Wilson mit Grippe daniederlag, dass in Deutschland rund 400.000 Menschen der Krankheit erlagen und dass die USA 48.900 Gefallene zählten, aber 62.000 Grippetote.
Wieso raffte die Influenza 1918 vor allem die Jungen, Robusten mit ihrem starken Immunsystem hin?
Witte: Betrachtet man die Altersverteilung bei den Opfern, entsteht tatsächlich keine U-Kurve, wie zu erwarten wäre - also mit dem Gros an Opfern bei den sehr Jungen und sehr Alten -, sondern eine W-Kurve, mit besonders vielen Opfern in der Gruppe der 20- bis 35-Jährigen. Die hohe Todesrate unter denen, die von den zeitgenössischen Ärzten als diejenigen mit kräftiger Konstitution klassifiziert worden waren, galt damals als besonders rätselhaft. Man kann davon ausgehen, dass das kräftige Immunsystem der Jüngeren besonders heftig reagiert hat, was zur Zerstörung von besonders viel Lungengewebe führte. Im Endeffekt richtete sich das Immunsystem so gegen den eigenen Körper. Große Menschenansammlungen unter hygienisch zweifelhaften Bedingungen - wie etwa in Rekrutenlagern -, boten dem Virus dann perfekte Möglichkeiten, sich zu verbreiten.
Grippe-Viren schaffen den Sprung über die Artgrenze oft dort, wo Menschen eng mit Schweinen und Geflügel zusammenleben, heute etwa in Ostasien. War das ländliche Kansas 1918 insofern das ideale Labor?
Witte: Hier muss ich mit einer Frage antworten: Wer weiß es schon? Es gibt verschiedene Hypothesen, wo der Patient Null hergekommen ist. Die älteste vermutete ihn tatsächlich in Haskel County, im US-Bundesstaat Kansas. Eine andere richtet den Fokus eher auf China, aber es wird auch die These vertreten, dass die Westfront das Virus gebar. Man kann es nicht beantworten.
War 1918 der Urknall dieses Virus-Typus oder gab es schon vorher Seuchenzüge von H1N1-Viren? Könnten Seuchenzüge der Vergangenheit, die als Pest deklariert wurden, tatsächlich Grippe-Pandemien gewesen sein?
Witte: Natürlich ist das Grippevirus ein uralter Erreger. Allerdings stoßen wir bei der historiographischen Betrachtung an die Grenzen der retrospektiven Diagnose. Je weiter man zurückgeht, desto fremdartiger werden die Krankheitsbeschreibungen. Im 18. Jahrhundert sprach man etwa vom "hitzigen Fieber". Für uns ist Fieber ein Symptom, keine Krankheit. Seriös kann man hier keine bestimmte Krankheit behaupten. Es gab viele Versuche, historische Pandemien nachträglich zur Grippe umzudeuten, etwa die "Attische Seuche" 430 bis 426 vor Christus. Wirklich überzeugend sind diese Versuche nicht. In den 1990er-Jahren rückten Viren wie Hanta oder Ebola in den Fokus. Sie hatten ganz besonders hohe Todesraten und erinnerten an das Virus der Spanischen Grippe. Dieses Virus gilt seitdem als Prototyp einer Gruppe von Viren. Sie werden auch als "emerging viruses" bezeichnet - Viren, die besonders rasant und bedrohlich auftreten können. Man muß aber aufpassen, dass Warnungen vor Grippeviren nicht in Richtung Alarmismus abdriften.
Garantieren die weiterentwickelten Therapien, dass es nicht wieder eine derart verheerende Grippe-Pandemie geben wird?
Witte: 1918 dürften viele Opfer an bakteriellen Sekundärinfektionen gestorben sein. Geht man davon aus, dass die Umgebungsfaktoren viel zur Tödlichkeit eines Virus beitragen, haben wir heute in Deutschland mit einem Arsenal von Antibiotika und einer Überflussgesellschaft gänzlich andere Bedingungen als vor 100 Jahren. Dennoch ist eine vergleichbare tödliche Seuche nicht auszuschließen. Allerdings erscheint mir das massenhafte Einlagern von Neuraminidase-Hemmern, die die Vermehrung der Viren eindämmen, indem sei ein Enzym hemmen, als fragwürdig, weil Tamiflu - um mal einen Markennamen zu nennen -, ein Medikament mit einer nicht besonders hoch zu veranschlagenden Wirksamkeit ist. Von daher wäre es sehr fraglich, ob das Geld in dieser Form des Katastrophenschutzes gut angelegt wäre. Die Grippeschutzimpfung ist dagegen sinnvoll, ungeachtet der wachsenden Impfskepsis. Therapien wie die invasive Beatmung mithilfe einer künstlichen Lunge sind wirkungsvoller, dank der Weiterentwicklung der Therapie nach der Schweinegrippe 2009, aber bei dem Szenario eines massenhaften Krankheitsausbruchs nicht für alle verfügbar. Dafür bedürfte es sehr viel mehr dieser Maschinen und entsprechend geschultes Personal. Die geeignete Vorsorgestrategie bleibt das Impfen gekoppelt mit der Virenüberwachung durch das Robert-Koch-Institut. Die vor Jahren hochfliegenden Träume, man könnte das Virengeschehen allein durch die Auswertung entsprechender Suchanfragen im Internet überblicken, sind mittlerweile geplatzt. Völlige Sicherheit gibt es nicht, es gibt aber auch keinen Anlass für Panik. Leider ist die Begrifflichkeit schwammig, man spricht etwa von einem "grippalen Infekt", was sprachlich ungünstig ist, weil das Attribut in diesem Fall eben nicht eine Grippe beschreibt, sondern eine Erkältung. Betroffene merken den Unterschied sofort: Hohes Fieber, Gliederschmerzen am ganzen Körper, trockener Husten sind klassische Symptome. Am besten hilft immer noch das, was auch vielen Infizierten 1918 geholfen hat: sich komplett zurückziehen und ins Bett legen. Denn ein spezifisches, hochwirksames Medikament gibt es nicht.
Steigert die leichtfertige Verschreibung von Antibiotika auch bei viralen Infektionen die Gefahr von Resistenzen und damit von gefährlichen Krankheitsverläufen?
Witte: Ja. Wir haben ein massives Problem mit zunehmenden Resistenzen - einerseits durch den Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht, andererseits durch Fehlverschreibungen. Der Wunsch des Patienten darf dem Arzt bei der Ausstellung eines Rezeptes nicht die Feder führen. Aber auch wenn dies im Falle von bakteriellen Sekundärinfektionen die Problematik erhöht, darf nicht aus dem Blick gelassen werden, dass die hohe Todesrate vor allem dem Influenza-Virus anzulasten ist.
Wäre der Einsatz von Tamiflu im Falle eines beginnenden Seuchenzugs heute angesichts der schnellen Verbreitung über Flugzeuge chancenlos?
Witte: Das lässt sich nicht seriös beantworten. Falls etwa ein neues, zerstörerisches Virus auftritt, ist völlig offen, ob ein Medikament, das jetzt im günstigsten Fall den Krankheitsverlauf um ein bis zwei Tage kappt, dann Wirkung zeigt. Studien haben eine relativ geringe Wirksamkeit der Neuraminidase-Hemmer belegt. Es ist deshalb schon erstaunlich, dass offizielle Stellen immer noch davon ausgehen, das wäre das benötigte Medikament im Falle eines Seuchenzugs. Richtig ist, dass man nichts anderes hat, das ursächlich wirkt und nicht nur symptomatisch.
Die heutigen Gesellschaften sind im Vergleich zu denen vor 100 Jahren sehr viel älter. Sollte Grippeschutz-Impfung zur Pflicht werden?
Witte: In einer Demokratie wäre es vermessen, dies zur Pflicht zu machen. Nicht zuletzt, weil das ständig mutierende Virus Impfkampagnen ins Leere laufen lassen kann und der Schutz von Impfungen gerade bei älteren Menschen oft herabgesetzt ist.
Das Interview führte Joachim Zießler
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