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Landeszeitung Lüneburg: "Wenn Europa es nicht schafft, schafft es niemand" - Interview mit Prof. Dr. Hans Joachim Schellnhuber

Lüneburg (ots)

Der neue Bericht des Weltklimarates sei ein Weckruf für die Politik, hat ein Staatssekretär betont, Wieviele Weckrufe braucht denn die Politik noch?

Prof. Dr. Hans Joachim Schellnhuber: Das hängt davon ab, wie verschlafen die Person ist. Man könnte sagen, wir haben alle zu lange durchgefeiert, als gebe es kein Morgen. Jetzt bemerken wir langsam, dass wir nüchtern werden. Der IPCC-Bericht fasst die Ergebnisse von zahlreichen Studien zusammen. Was muss Ihrer Ansicht nach umgehend getan werden, um den Anstieg der durchschnittlichen Temperatur noch auf 1,5 Grad zu begrenzen? Das Pariser Abkommen sieht vor, dass die Erderwärmung auf unter zwei Grad begrenzt werden soll. Schon das ist sehr schwierig. Der IPCC hatte zwei Aufträge bekommen: Den Unterschied der Auswirkungen einer Erwärmung um 1,5 und zwei Grad zu beschreiben; und herauszufinden, ob die Beschränkung auf 1,5 Grad noch machbar ist. Dazu muss man wissen, dass es schon jetzt eine Erwärmung um ein Grad im globalen Mittel gibt. Gleichzeitig maskiert die Luftverschmutzung zum Beispiel durch Schwefelpartikel rund ein halbes Grad Erwärmung. Wenn die Luft zum Beispiel über Europa, Amerika, Asien sauberer werden würde, wären wir schon bald bei 1,5 Grad. Der IPCC hat trotzdem Szenarien vorgelegt, wie eine Begrenzung auf 1,5 Grad gelingen könnte. Technisch und ökonomisch ist es nur möglich, wenn wir sofort in den Ausstieg aus dem fossilen Geschäft einsteigen. Dazu haben wir in wissenschaftlichen Fachaufsätzen mit Kollegen eine Faustregel vorgelegt: Es muss ein exponentieller Ausstieg sein - jedes Jahrzehnt muss der Kohlendioxid-Ausstieg weltweit halbiert werden. Dann wären wir in der Mitte des Jahrhunderts fast am Ziel von netto Null CO₂-Emissionen. So hätten wir noch eine Chance, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen, so wie es die internationale Staatengemeinschaft im Pariser Abkommen beschlossen hat. Allerdings müssen wir aufpassen, dass wir auf dem Weg dorthin nicht einige unsere besten Freunde - Ökosysteme wie Regenwälder - hinmorden, was im Augenblick der Fall ist. Wenn zum Beispiel in Brasilien ein Präsident an die Macht kommen sollte, dem Umweltschutz egal ist, verlieren wir genau die natürlichen Kohlendioxid-Senken, die wir brauchen. Es gehören also zwei Dinge zusammen: Der unmittelbare Ausstieg aus dem fossilen Geschäft und die Bewahrung der Natur, die uns im Grunde genommen schützt.

Die EU-Umweltminister haben sich auf eine Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen im Straßenverkehr von 35 Prozent geeinigt. Die Bundesregierung wollte hingegen nur 30 Prozent. Wird zu viel Rücksicht auf die Industrie genommen?

Schellnhuber: Natürlich ist auch mir wichtig, dass es Unternehmen gut geht und die Menschen Arbeit haben. Aber Kurzfrist-Denken hilft nicht, wir müssen nachhaltig wirtschaften, sonst zerstören wir auf Dauer die Grundlagen unseres Wohlstands. Wenn wir die riesige Herausforderung Klimawandel und damit auch die Rettung der Existenz unserer gesamten Zivilisation angehen, müssen Industriesektoren transformiert werden. Die große Frage ist, ob wir Klimaneutralität erreichen können, ohne damit soziale Verwerfungen herbeizuführen. Die Antwort lautet: Ja, es ist möglich, wenn wir klare Ziele formulieren, wenn wir alle Kräfte der Innovation entfesseln, und wenn wir dem Menschen erklären, dass Veränderungen möglich sind. In der Autoindustrie sind große Veränderungen ohnehin unabwendbar. Der Verbrennungsmotor ist im Grunde ein Irrtum der Industriegeschichte. Er ist ein extrem ineffizientes Gerät. E-Motoren nutzen Energie viel effizienter, diesen Antrieben gehört ganz klar die Zukunft. Es hat keinen Sinn, die Augen davor zu verschließen. Ich würde der deutschen Autoindustrie raten, sich an die Spitze der E-Mobilität zu setzen statt hinterherzuhinken. Ich bin überzeugt davon, dass wir es können in Deutschland. Ich glaube, dass Umdenken setzt gerade ein. Insofern tut die Bundesregierung unserer Autoindustrie keinen Gefallen, wenn sie zögerlich und defensiv agiert.

Die EU-Staaten haben sich zudem auf eine gemeinsame Linie für die Weltklimakonferenz im Dezember geeinigt, wollen die Klimaziele der EU womöglich erhöhen, machen dies aber von den Verhandlungen auf der Klimakonferenz abhängig. Ist die Zeit des gegenseitigen Belauerns nicht vorbei, wäre es nicht besser, wenn die EU voranschreitet statt auf die anderen zu schauen?

Schellnhuber: Ja, natürlich muss man voranschreiten. Die Klimagipfel sind unglaublich kompliziert, die Verhandlungen sind unendlich frustrierend. Aber es geht hier um das Selbstverständnis von Europa. Wenn wir weder eine völlig ungezügelte Konsumkultur haben wollen, in der sich alles nur um Profite dreht, und wenn wir keine freiheitsfeindliche, zentral-geplante Wirtschaft und Gesellschaft haben wollen, müssen wir dem europäischen Weg konsequent weiter folgen. Dieser Weg bedeutet: Wir haben Freiheit, aber gleichzeitig auch Verantwortung, ethische Werte und Ziele. Daraus folgt, dass wir in der Tradition der europäischen Aufklärung voranschreiten müssen, ohne eine Garantie zu haben, dass der Rest der Welt folgen wird. Wenn Europa das nicht hin bekommt, bekommt es niemand hin.

Die Arktis ist besonders stark betroffen von der Erderwärmung. Je mehr Permafrostböden auftauen, desto mehr des dort gespeicherten Kohlendioxids wird freigesetzt. Können wir diesen Prozess überhaupt noch in verkraftbare Bahnen lenken?

Schellnhuber: Wenn wir Glück haben - und wenn wir die Erwärmung begrenzen. Ich war Mitautor des Artikels über die Unterdrückung einer Eiszeit durch den Klimawandel, der für großes Aufsehen gesorgt hatte. In diesem Artikel haben wir darauf hingewiesen, dass es eine Reihe von schleichenden Entwicklungen gibt, die nicht mehr gestoppt werden können, wenn sie erst einmal in Gang gekommen sind. Das betrifft nicht nur Permafrostböden, sondern auch die riesigen Methaneis-Sedimente auf den Kontinentalschelfen. Diese gigantischen Reservoirs erstarrter Treibhausgase könnten tatsächlich in Bewegung geraten. Wir Wissenschaftler glauben, dass es - noch - ein sehr langsamer Prozess ist, der zwar nicht völlig vermieden, aber dessen Ausmaß begrenzt werden kann. Wir können aber nicht sicher sein, wir können das Risiko nicht genau beziffern. Deshalb gibt es zwei Konsequenzen: Wir Forscher müssen so schnell wie möglich das tatsächliche Risiko besser einschätzen. Und wir alle müssen so schnell wie möglich die globale Erwärmung begrenzen, um die Risiken zu senken, dass das Methan freigesetzt wird. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Natur auch dieses Mal gnädig mit uns ist.

Steht das Interesse an der Ausbeutung der riesigen Rohstoffvorkommen in der Arktis dem Klimaschutz entgegen?

Schellnhuber: Das ist in der Tat eine so egoistische wie dumme Rechnung, die gerne aufgemacht wird: Schmilzt das Eis, kann man besser an die Rohstoffe kommen. So entsteht eine geradezu zynische Ironie. Genau diejenigen, die an der Erderwärmung eine große Mitschuld haben, profitieren vom Klimawandel: Erdölkonzerne und Co. Wir müssen alles dafür tun, dass die Arktis nicht erschlossen wird.

Es scheint unumgänglich, das klimaschädliche Gas aktiv aus der Luft zu entfernen. Neben der Aufforstung gibt es weitere Möglichkeiten wie das CCS-Verfahren, die BECCS-Technologie oder Geoengineering. Welche Technologie wäre Ihrer Meinung nach zu wählen?

Schellnhuber: Am besten keine. Ich habe da eine ganz klare Linie: Wir sollten auf keinen Fall irgendwelche Frankenstein-Technologien ins Spiel bringen, die wir nicht beherrschen können - das gilt vor allem für das Abschirmen von Sonnenlicht durch künstlich in die Atmosphäre eingebrachte Partikel, das Solar Radiation Management. Wir sollten vielmehr auf besseres Waldmanagement mit Aufforstungen setzen. Wir sollten auf eine weniger industrialisierte Landwirtschaft setzen. Beides trägt dazu bei, Klimaschutzziele zu erreichen. Kohlendioxid direkt aus der Luft entfernen, Carbon Dioxide Removal heißt das in Fachkreisen, ist thermodynamisch schwierig und enorm teuer. Zudem müsste man dafür eine globale Infrastruktur aufbauen. Denkbar ist, aber nur in begrenztem Maße, das Abspalten und unterirdische Verpressen von CO₂ aus den Abgasen von Biomasse-Kraftwerken. Aber es ist wesentlich wichtiger, die globale Infrastruktur für Erneuerbare Energien so schnell wie möglich auszubauen. Das wäre ein doppelter Gewinn: Wir würden sehr günstig Energie bekommen und wären nicht mehr von Schurkenstaaten abhängig, die allein ihrem Ölreichtum ihre Existenz verdanken. Zweitens würden wir dem Klima etwas Gutes tun.

Wie groß ist denn die Gefahr, dass die Meere als Kohlendioxid-Senke ausfallen, weil sie mit jedem Zehntelgrad Erwärmung immer weniger Kohlendioxid aufnehmen?

Schellnhuber: Sie werden nicht ausfallen, aber auf Dauer weniger Kohlendioxid speichern können. Hinzu kommt ein weiteres Problem: die Versauerung der Meere. Wenn sie CO₂ aufnehmen, verändern sie ihre Chemie, und das hat weit reichende Auswirkungen auf die Lebewesen im Meer. Das wird intensiv erforscht. Zwei Drittel des Planeten sind von Wasser bedeckt. Wir sollten die Ozeane so gut wie möglich schützen - in unserem eigenen Interesse.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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