Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Die Krise in Europa und der Eurovision Song Contest Mehr Leidenschaft VON STEFAN BRAMS
Bielefeld (ots)
Europa gibt derzeit kein gutes Bild ab. Dänemarks Rechtspopulisten schließen die Grenzen wieder, scheren mal eben im Alleingang aus dem Abkommen von Schengen aus. Zwischen Frankreich und Italien sieht es in der Auseinandersetzung um den Umgang mit Flüchtlingen aus Nordafrika keinen Deut besser aus. Auch in Finnland drohen die populistischen "Wahren Finnen" mit weiteren Alleingängen, sperren sich gegen die Hilfe für Portugal. Nein, ein gemeinsames, solidarisches Europa sieht anders aus. Und dies sind ja nur ein paar Beispiele, wie sehr es hakt und wie wenig attraktiv, geschlossen und anziehend die Europäische Union für ihre Bürger auch außenpolitisch auf der Weltbühne derzeit daherkommt. Wird so weitergewirtschaftet - dann ist das Ende dieser Gemeinschaft nahe. Gut, dass es noch den Eurovision Song Contest gibt. Der wird an diesem Samstag wieder mehr als 120 Millionen Zuschauer in ganz Europa vor den Bildschirmen vereinen. Denn erneut gilt es, im friedlichen Sängerwettstreit dem eigenen Land die Daumen zu drücken, sich zu vergleichen, mitzufiebern, die anderen zu kritisieren, sich zu amüsieren über skurrile Auftritte, Liedchen und Lieder, ironische und folkloristische, ernstes und patriotisches Getöse. Hier findet Europa spielerisch zusammen. Für einen mehrstündigen Abend ist alles leicht, und man erlebt eine Gemeinschaft im friedlich-spielerischen Wettstreit miteinander. Keine schlechte Botschaft - in diesen Zeiten, in denen der Vorrat an Gemeinsamkeiten, an Solidarität in Europa sich täglich stärker zu verbrauchen scheint. Überhaupt ist der Song Contest seit seiner Gründung 1956 immer schon ein durchaus politisches Ereignis gewesen und längst nicht nur ein Event. Der Ostblock kreierte in der Zeit des Kalten Krieges gar eine eigene Ostkopie. Und Spaniens Diktator sah sich genötigt, den Wettbewerb zu manipulieren. 1968 ersetzte Franco die katalanische Siegerin des spanischen Vorentscheides kurzerhand durch die Madrider Sängerin Massiel, die mit dem Titel "Lalala" antrat und gewann. Für Gänsehaut sorgte die Friedensdemonstration im Jahr 1999. Zum Schluss des Sängerwettstreits hielten sich alle Teilnehmer an den Händen und sangen gemeinsam "Halleluja", um so auf die Situation im Kosovo aufmerksam zu machen. Der ESC ist eben doch mehr als nur ein Schlagerwettbewerb. Er ist auch ein Spiegel von Befindlichkeiten und Spannungen in Europa. Und er kann ein Symbol für Europas Stärke sein. Spielerisch vereint im Wettstreit um das beste Lied in Europa, begeistert unser schöner alter Kontinent so viele Menschen für sich wie sonst nie. Europa braucht mehr solche Momente, in denen es sich gemeinsam spürt und erlebt jenseits von rationalem Kalkül. Es gilt eine Europa-Leidenschaft, eine europäische Identität und ein gemeinsames Lebensgefühl zu wecken. Dann dürften die Anti-Europäer, die in Europa wieder Schlagbäume errichten und die europäische Idee der kleingeistigen Nationalstaaterei opfern wollen, weniger leichtes Spiel haben.
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