Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTARE Islamismus im arabischen Frühling Der Westen braucht Geduld DIRK HAUTKAPP, WASHINGTON
Bielefeld (ots)
Als sich der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in einer tunesischen Kleinstadt aus Protest gegen die Schikanen eines korrupten Regimes selbst anzündete, konnte niemand ahnen, welcher Flächenbrand daraus entstehen würde. Gemessen an der Zeitschiene ist das, was binnen nicht einmal eines Jahres zum arabischen Frühling wurde, immer noch ein Wunder. Der phänomenale Domino-Effekt, der von Tunesien ausging, erschüttert bis heute eine ganze Region, in der sich über Jahrzehnte größte materielle Not und tiefe Frustration über politische Entmündigung zu einem explosiven Gemisch zusammengebraut hatten. Der große Knall hat die reichen Nachbarn im Norden kalt erwischt. Inzwischen hat Europa leider seine übliche Standardsprache wiedergefunden, wenn es die Geschehnisse im südlichen Hinterhof zu kommentieren gilt. Der Umstand, dass bei den ersten demokratischen Wahlen in Tunesien, dem Mutterland des Aufstands der Untertanen, die mündige Bürger werden wollen, jetzt eine dem Islamismus zugerechnete Partei gesiegt hat, sorgt mit Blick auf Ägypten, Libyen und mittelfristig Syrien wie Jemen für reflexhafte Reaktionen: War alles für die Katz? Kommen nach den Despoten jetzt die religiösen Fanatiker? Dahinter verbirgt sich die irrige Auffassung, der arabische Teil Nordafrikas sei ein homogener Block. Es gab aber nie die eine arabische Welt. Darum wird es auch nie den einen Weg geben, den Übergang zur Demokratie zu schaffen. In allen Ländern, die sich aufmachen, die Fesseln der Diktaturen abzustreifen, wird es unterschiedliche Modelle geben. Mal wird kaum zu durchschauendes Stammesdenken überwiegen, mal die Beteiligung des Militärs, mal ein Nationalismus. Das mag den Westen irritieren, er wird es aber aushalten müssen. Wichtiger als die Akteure sind die Herausforderungen, vor denen alle vom Aufbruch betroffenen Länder stehen: Sie müssen ihrer meist ungeduldigen Bevölkerung glaubwürdige Perspektiven auf Sicherheit, Teilhabe und wirtschaftliches Fortkommen geben. Sie müssen ein Regierungsmodell schaffen, in dem eine unabhängige Justiz über die demokratische Verfassung wacht. Und sie müssen ein Erwartungsmanagement etablieren, damit bei absehbaren Rückschlägen das leicht erhitzbare Volk sich nicht zurück in alte Zeiten wählt. Der Westen - Europa und Amerika vor allem - kann hier außerhalb notwendiger wirtschaftlicher Aufbauhilfe in der Dimension eines Marshallplanes grundsätzlich stabilisierend wirken. Wer allerdings mit Ben Ali, Mubarak oder Gaddafi anstandslos Geschäfte gemacht hat, muss nun auch den Atem haben, eine neue Führungsschicht wachsen und Fehler machen zu lassen. Viel spricht dafür, dass der bisherige Siegeszug des Islamismus im arabischen Raum vor allem auf die Unterdrückung der Moderne und ihres tauglichsten Systems, der Demokatie, zurückgeht. Wächst eine gesunde Demokratie, erfahren die Anhänger eines Gottesstaates ihre Grenzen.
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