Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) schreibt zur Geschichtsvergessenheit:
Bielefeld (ots)
Helmut Kohl hatte Recht. Zwar sind auch 19 Jahre nach dem Mauerfall, anders als vom Kanzler der Einheit versprochen, nicht überall im Osten »blühende Landschaften« entstanden. Aber unbestritten ist, dass es den Menschen besser geht. Warum? Sie leben jetzt in einer Demokratie. Umso erschreckender ist, was eine repräsentative Schülerbefragung des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin nun zu Tage gefördert hat. Das Fazit: Viele deutsche Schüler, vor allem im Osten, aber auch im Westen, haben ein verklärtes Bild von der DDR. Kurz: »Willy Brandt war ein DDR-Politiker und die Bundesrepublik hat die Mauer gebaut.« Nun mag man einwenden, dies sei nicht mehr als ein weiterer Beleg für die Bildungsmisere - und manch ein Ausbildungsleiter könnte sicher einiges Ernüchternde hinzufügen. Doch leider geht es um noch mehr. Es geht um das Wesen unserer Gesellschaft. Die Unkenntnis historischer Zusammenhänge macht anfällig für Bauernfängereien - egal, ob aus dem linken oder dem rechten Lager. Wenn also die zweite Diktatur, die Deutschland im 20. Jahrhundert erdulden musste, verharmlost wird, ist Gefahr im Verzug. Einen Anteil daran haben sicher ostdeutsche Lehrer und Eltern, die ja Teil dieser Diktatur waren, wenn auch in vielen Fällen ein unmaßgeblicher. Ihr Verhalten heute ist moralisch verwerflich, aber zutiefst menschlich. Auch im Westen dieser Republik würde sich niemand gerne sagen lassen, dass alles, was er in den vergangenen 40 Jahren gemacht hat, falsch war. So werden Spreewaldgurken und der Trabi glorifiziert, während man über Bautzen, menschenverachtende Stasi-Spitzeleien und Mauer-Morde schweigt. Ein mindestens ebenso großes Ärgernis sind prominente Zeitzeugen wie Schauspielerin Katharina Thalbach, die diese Sichtweise noch befeuern. Es mag sein, dass Frau Thalbach ihre Zeit in der DDR persönlich nicht missen möchte, aber sie konnte das Land auch 1976 verlassen. Die DDR ist in vielem so subtil grausig und lausig gewesen, dass es mancher gar nicht merken konnte. Und nach der friedlichen Wende, die vor allem dem Mut und der famosen Leistung der DDR-Bürger zu verdanken ist, wollten es viele nicht merken - auch und vor allem im Westen. Ein Stück aus der Berliner Mauer ja - aber ernsthafte Auseinandersetzung mit der DDR - lieber nicht. Dass viele Jugendliche heute so wenig über die DDR wissen, dürfen wir also nicht nur den Schulen, den Lehrern oder der Politik, sondern müssen wir uns auch selbst zuschreiben. »Wir sind das Volk«, haben die Menschen bei den legendären Montagsdemonstrationen in Leipzig gerufen. »Wir sind die Demokratie«, möchte man hinzufügen. Wolfgang Tiefensee, Ostbeauftragter der Bundesregierung, hat eine offenere Kommunikation gefordert: »Sprechen Sie mit ihren Kindern über die schönen Erlebnisse, aber auch über Mauer und Stacheldraht.« Letzteres zumindest gilt nicht nur in Potsdam, sondern auch in Paderborn.
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