Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Jahrestag des Amoklaufs in Winnenden:
Bielefeld (ots)
Um 9.33 Uhr läuteten gestern in Winnenden die Glocken, während die Menschen schwiegen. Ein Jahr ist seit der unfassbaren Bluttat vergangen, verjährt aber ist gar nichts. Die Trauer, das Entsetzen, die Frage nach dem Warum sind so gegenwärtig wie am 11. März 2009. Am Jahrestag rückten sie nur wieder stärker in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Da sind die Angehörigen der Ermordeten, die Mitschüler, die Lehrer, denen jede nur denkbare Hilfe zuteil wird, damit sie von der Last des Erlebten, des Erlittenen, des Unverdrängbaren nicht erdrückt werden. Doch die Opfer wollen nicht zeitlebens Opfer bleiben. Sie haben überlebt, sie wollen ihr Leben weiterleben, so unbeeinträchtigt, wie es nur eben möglich ist. Sie verdienen Schutz und Respekt. Da sind die Reporter, die ein Jahr danach wieder in großer Zahl aus Winnenden berichten. Sie hören die Mahnung von Bundespräsident Horst Köhler: Detaillierte Berichterstattung über die Täter, ihre Motive und ihre Vorgehensweise könne Nachahmer zu ähnlichen Taten anstiften. Das ist nicht als Aufforderung misszuverstehen, Fakten oder Zusammenhänge zu verschweigen. Sehr wohl aber muss sich die Zunft der Journalisten fragen lassen, ob tatsächliche oder unterstellte Sensationsgier bei Lesern oder Zuschauern stets befriedigt werden muss. Da ist die Politik, die nassforsch zur Tagesordnung übergegangen ist. Die nach der Tat von Winnenden beschlossene Reform des Waffengesetzes sei ausreichend, findet etwa CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach. Fall erledigt? Polizeipraktiker wie Klaus Jansen vom Bund Deutscher Kriminalbeamter sehen das ganz anders. Zurecht: Ganze fünf Hausbesuche bei Waffenbesitzern gab es im vergangenen Jahr im Kreis Gütersloh, null im Kreis Minden-Lübbecke - das ist unfassbar. Zugegeben: Die bloße Existenz von Waffen löst noch keinen Amoklauf aus. Ohne Waffen aber ist ein solches Blutbad eben nicht möglich. Horst Köhler hat also Recht, wenn er sagt: »Es kann auch viel geschehen - noch mehr als bisher - damit gefährdete Menschen nicht an Schusswaffen gelangen.« Und da sind der Täter, mit dem man sich eben doch befassen muss, und sein Umfeld: Man weiß von psychischen Problemen des 17-Jährigen und von der Schießleidenschaft des Vaters. Von einer wirklichen Erklärung sind wir weit entfernt. Das Klügste, was es dazu zu sagen gibt, hat Gisela Mayer, die Mutter der getöteten Referendarin, in ihrem Buch »Die Kälte darf nicht siegen« formuliert: Vertrauen, Verantwortung, Zuneigung und Zeit - das sei es, was Familien ihren Kindern mit auf den Weg geben müssten. Der Mörder Tim K. sei ein »exemplarisches Produkt dieser Gesellschaft«. Diese Mahnung wirkt über den Jahrestag hinaus. Sie ist Verpflichtung für jeden Einzelnen - jeden Tag.
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