Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Gewerkschaften/1. Mai
Bielefeld (ots)
Stell dir vor, es ist 1. Mai und keiner geht zur Kundgebung. Die Gewerkschaften tun sich in diesem Jahr extrem schwer, den »Tag der Arbeit« ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Das liegt nur zum Teil an der heute in London stattfindenden »Hochzeit des Jahres«. Wichtiger ist da, dass der 1. Mai diesmal auf einen Sonntag fällt und den Beschäftigten dadurch ein arbeitsfreier Tag verloren geht. Der Hauptgrund aber ist: Die Arbeitswelt hat sich in Deutschland in einer Weise verändert, dass rote Fahnen heute außerhalb von Museen eher deplatziert wirken. Gute Zeiten, die von einer anziehenden Konjunktur und sinkender Arbeitslosigkeit geprägt sind, gelten eigentlich auch als gute Zeiten für die Gewerkschaften. Wann, wenn nicht jetzt, können sie Lohnerhöhungen durchsetzen? Wann, wenn nicht jetzt, zeigen Streiks auch Wirkung? In ganz schlechten Zeiten, wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist und das Auftragsbuch leer, sparen Unternehmer gern mal Personalkosten, indem die Beschäftigten aus der Streikkasse bezahlt werden. Auf der anderen Seite gilt: Nur Not schweißt zusammen. Wenn es den Beschäftigten gut geht, ist mancher versucht, Solidarität gering und nur auf das eigene Salär zu achten. Die Reduzierung der Wochenarbeitszeit, das große Gewerkschaftsthema in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, hat sich erledigt. Der immer offener zutage tretende Mangel an Fachkräften führt dazu, dass die kleinen Errungenschaften Schritt für Schritt zurückgedreht werden. Mit der Leiharbeit haben die meisten Gewerkschaften ihren Frieden gemacht, seit die Branche bereit ist, Tarifverträge zu vereinbaren, die diesen Namen verdienen. Das neue Thema Mindestlohn, das 2011 als die zentrale Forderung zum 1. Mai präsentiert wird, hat nur eine begrenzte Relevanz. In den wichtigsten Branchen haben die Tarifpartner längst Mindestlöhne vereinbart, die auch für allgemeinverbindlich erklärt wurden. So werden sich auch in den Gewerkschaften kaum Mitglieder finden, die das Thema tatsächlich persönlich betrifft. Nicht alle empfinden die Zeiten heute als gut. So manches Unternehmen und manche Branche stecken weiter in der Kostenfalle. Steigen die Personalausgaben, müssen die Arbeitgeber oft entweder Stellen abbauen oder ins Ausland verlagern. Da sind die Investitionen hoch und der Erfolg ungewiss. Also sitzen die Arbeitnehmer in einem Boot mit ihren Chefs, insbesondere mit den standorttreueren Familienunternehmern. Schlechte Zeiten für die Gewerkschaften sind nur bedingt gute Zeiten für die Unternehmer. Viele von denen, die aus der Tarifgemeinschaft ausgestiegen sind, haben dies bereits leidvoll feststellen müssen. Es mag nicht angenehm sein, mit einem Gegner zu kämpfen, der gut organisiert ist. Doch ohne ihn holt sich der Betrieb den Konflikt ins eigene Haus. Die Folgen sind langfristig und viel gravierender.
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