Westfalen-Blatt: zum Thema "Grüne Doppelspitze"
Bielefeld (ots)
Nein, das Wort Überraschung trifft es nicht. Ganz und gar nicht. Es kommt schon einer Sensation gleich, dass sich die Grünen für Katrin Göring-Eckardt als Spitzenkandidatin neben Jürgen Trittin entschieden haben. Das Signal ist deutlich: Die grüne Basis stärkt intern den Realo-Flügel und zwingt die Parteiführung zum Aufbruch in eine neue Zeit. Zur Disposition steht nicht weniger als die zwanghaft betriebene, politisch korrekte Positionierung im Parteienspektrum. Erst Kretschmann, dann Kuhn und nun Göring-Eckardt: Nie waren die Grünen bürgerlicher als heute. Am Horizont schimmert Schwarz-Grün. Mit der Urwahl ist den Grünen auch im Wettstreit um eine zeitgemäße Ausgestaltung von Politik ein Coup gelungen. Zwar war diese Premiere eher erzwungen und gewiss nicht frei von peinlichen Auftritten. Zu groß war die Zahl schräger Kandidaten. Auch möchte man manche der Vorstellungsrunden am liebsten schnell vergessen. Doch unter dem Strich haben die Grünen bewiesen, dass Basisdemokratie funktioniert. Sie haben geschafft, was die Piraten nur propagieren: Offenheit zu gewährleisten und das Mitmachen zu ermöglichen, ohne auf Ernsthaftigkeit und Effizienz im Ergebnis zu verzichten. Dabei ließ es das Votum der 37 000 Mitglieder, die abstimmten und damit für eine Wahlbeteiligung von 62 Prozent sorgten, an Deutlichkeit nicht fehlen. So gesellen sich zur Überraschungssiegerin zwei große Verlierer - Renate Künast und Claudia Roth. Für Renate Künast ist es schon die zweite Pleite in Folge: erst der Absturz beim Versuch, das Berliner Abgeordnetenhaus zu stürmen und den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit abzulösen und nun die klare Niederlage gegen Katrin Göring-Eckardt, die ihr noch dazu die eigenen Leute beigebracht haben. Noch schlimmer trifft es Claudia Roth, deren 26,18 Prozent einem Debakel gleichkommen. Die Parteichefin hat bei der Urwahl von allen Kandidaten am meisten riskiert, nun ist sie brüskiert. Weniger Rückhalt in den eigenen Reihen ist für die Vorsitzende kaum denkbar. Sehr wahrscheinlich wird Claudia Roth daraus schon heute ihre Konsequenzen ziehen und auf dem Parteitag am kommenden Wochenende nicht wieder für den Parteivorsitz kandidieren. Kommt es so, hängt noch mehr von Jürgen Trittin ab. Die unumstrittene Nummer 1 der Grünen ist er schon, auch das hat die Urwahl bewiesen. Ohne Claudia Roth in der Führungsspitze aber käme es allein auf Trittin an, bei entsprechender Gelegenheit die Weichen für ein schwarz-grünes Bündnis zu stellen. Ihm selbst jedenfalls dürfte das im Zweifelsfall allemal lieber sein, als einer Großen Koalition beim Regieren zuzuschauen und selbst Anführer einer relativ kleinen und schwachen Opposition zu sein. Die Treueschwüre für Rot-Grün werden in den nächsten Wochen und Monaten gewiss nicht verstummen, aber sie dürften wohl ein bisschen leiser werden. Und alles Weitere muss man dann sehen - nach der Wahl.
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