RNZ: Rhein-Neckar-Zeitung, zu: Präsidentenwahl
Heidelberg (ots)
Die politischen Seismographen hatte seit Wochen ein kleines Beben angekündigt. Mit der Niederlage des schwarz-gelben Kandidaten Wulff in zwei Wahlgängen wurde geradezu Lust am Untergang demonstriert. Die Präsidentenwahl, frei und geheim, wurde benutzt, um eine dicke Rechnung mit der Machtstrategie der Kanzlerin zu begleichen. Ironie der Geschichte: Wulff, der mit diesem Makel ins neue Amt gehen muss, war der letzte Rivale Merkels aus der mittleren Generation. Merkel selbst hat ihn nach Köhlers überdramatischen Rücktritt reflexartig weggelobt und ist damit zum Opfer einer taktischen Meisterleistung ihres künftigen Gegenspielers Sigmar Gabriel geworden. Indem die Kanzlerin zu einem bürgerlichen, öffentlich mehrheitsfähigen und zudem ostdeutschen Kandidaten Joachim Gauck so schnell nein sagte, hat sie die Präsidentenwahl für ein Votum gegen ihre Pannenregierung freigegeben. Das Spiel von Kabale und Liebe ist den Beteiligten aller drei Parteien entglitten. Der Neustart bleibt ein frommer Wunsch. Aber die beginnende Demontage der Regierung und der Kanzlerin hat ein erstes Datum: 30. Juni 2010. Weitere werden folgen. Es sind zwar auch schon andere Präsidenten erst im dritten Wahlgang gewählt worden - eben weil der Start in dieses Amt fast immer parteipolitische aufgeladen war. Die "Präsidentenwerdung", häufig im Gegensatz zu den einstigen Förderern, muss das in keiner Weise behindern. Aber noch nie zuvor in der deutschen Nachkriegsdemokratie war auch die Sehnsucht der Menschen nach einer unabhängigen und moralisch integren Mediatorengestalt über den Streitparteien so groß. Oder umgekehrt gesagt: Selten zuvor war die Politik so angreifbar und schlichtweg schlecht. Wer diese Gefahr nicht sieht, handelt sträflich. Gauck wäre es leichter gefallen, in dieser Situation der politischen Verunsicherung den "Pater patriae" mit hohem moralischen Gewicht zu geben. Christian Wulff muss sich als gewachsener Parteipolitiker erst einmal häuten und diese Rolle noch finden. Sein Weg, die geistig-moralische Kompassnadel der Republik zu verkörpern, ist länger. Aber er könnte dafür das Amt aus seiner etwas honorigen Erstarrung befreien. Spätestens mit seiner Vereidigung hat er aber Anspruch auf den Respekt, der dem Amt zukommt, und in dem der Inhaber wachsen kann. Ein Lehrstück in freier Entscheidung mit dem hehren Ziel, den Besten zu küren, war diese Wahl nicht. Im Gegenteil, so viel Taktik war nie. Ihr fielen übrigens auch die Linken zum Opfer, die mit der teilweise unüberwindlichen Ablehnung von Gauck einmal mehr als die lernunfähigen Erben der SED durch die Arena geführt wurden.
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