Einigung unter höchstem Druck
Kommentar von Raimund Neuß zum schwarz-roten Koalitionsvertrag
Köln (ots)
Der künftige Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) spricht von einem Aufbruchssignal, SPD-Chef Lars Klingbeil betont das Ziel, Deutschland gemeinsam voranzubringen, und CSU-Chef Markus Söder vermutet im Koalitionsvertrag gar einen möglichen Bestseller. Vor sechs Wochen, am Montag nach der Bundestagswahl, hatte ebenjener Söder noch von der letzten Patrone der Demokratie gesprochen.
Für beide Sichtweisen spricht etwas: Für die, die Söder am 24. Februar 2025 formuliert hat, ebenso wie für den jetzt geäußerten Optimismus. Die Bedingungen, unter denen Union und SPD ihr Bündnis beginnen, könnten schwieriger nicht sein. Zu anhaltenden Problemen vom Klimawandel bis zur Aggression des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seiner Kamarilla kommt das Verhalten von US-Präsident Donald Trump hinzu, der das Vertrauen in die Nato untergräbt und im Begriff ist, eine internationale Wirtschaftskrise zu inszenieren.
Diesen Herausforderungen müssen - es geht nicht anders - Vertreter von drei Parteien begegnen, die bei der Bundestagswahl miserable Ergebnisse erzielt haben. Hernach haben sie laut Umfragen weiter an Vertrauen eingebüßt. Wer da nur auf Merz und die Glaubwürdigkeitsprobleme der Unionsparteien zeigt, der sieht nicht das ganze Bild. Auch die Sozialdemokraten verlieren, die Grünen stagnieren, Parteien am linken und rechten Rand legen zu. Wir erleben tatsächlich eine Krise der Demokratie, und Söders martialisches Wort von der letzten Patrone trifft den Sachverhalt durchaus.
Wird diese letzte Patrone klug genutzt? Manche Details des Koalitionsvertrages mögen Zweifel wecken. Eine Koalition, die angeblich doch streng priorisieren will, verteilt Boni nach allen Seiten: Förderung von E-Dienstwagen, aber auch von Wasserstofftankstellen für Lkw. Agrardiesel-Rückvergütung. Beim Erhalt der für die Demokratie so wichtigen Medienvielfalt wird dagegen nur geprüft und erörtert. Wie die 300 Milliarden Euro, die aus dem schuldenfinanzierten Sondervermögen von 500 Milliarden überhaupt noch frei verfügbar sind, verteilt werden sollen, auch das sehen wir später. Die Entscheidung über eine Reaktivierung der Wehrpflicht wird vertagt, aber immerhin werden Voraussetzungen für Wehrerfassung und Wehrüberwachung geschaffen. Ja, immerhin. So wie es auch andere sinnvolle Festlegungen gibt, etwa die Bildung eines Nationalen Sicherheitsrates.
Wichtiger als all diese Einzelheiten ist aber das, was SPD-Chef Klingbeil festgehalten hat: Den Partnern ist es gelungen, "trotz unterschiedlicher Standpunkte Brücken zu bauen". Und das unter höchstem Druck.
Die Zeiten sind gefährlich. Das nehmen die Bürger wahr, denen laut Umfragen die geopolitischen Krisen und die wirtschaftliche Lage die größten Sorgen machen - weit größere als Probleme der Migration, so lobenswert auch das Ziel ist, hier Recht und Ordnung durchzusetzen. Schon morgen kann der jeweils nächste Eskalationsschritt der Herren Trump, Putin oder - nicht zu vergessen - Xi alle Absprachen überholen. Umso wichtiger ist es, dass unser Land eine handlungsfähige Führung bekommt und an der Seite Frankreichs und Polens wieder eine zentrale Rolle in der EU einnimmt. Am Ende werden weder Agrarsubventionen noch die Zahl der Aufgriffe von Migranten an deutschen Grenzen das Urteil über die Regierung Merz bestimmen, sondern die eine, die zentrale Frage: in welchem Maße es dieser Regierung gelungen ist, unsere Demokratie vor Angriffen von innen und außen zu schützen.
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