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CDU/CSU - Bundestagsfraktion

CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Merz: Gedanken zur Politik im 21. Jahrhundert
Teil 1 von 2

Berlin (ots)

Im Rahmen der Zukunftswerkstatt in der
Konrad-Adenauer-Stiftung am 10. Oktober 2001 in Berlin hält der
Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz MdB,
folgenden Vortrag:
Es gilt das gesprochene Wort
Entsteht eine neue Ordnung des Politischen? -
   Die Bürgergesellschaft zwischen Identitätssehnsüchten und globalem
Wandel Anrede,am Beginn des 21. Jahrhunderts steht unsere Demokratie
vor großen Herausforderungen. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher,
gesellschaftlicher und sicherheitspolitischer Veränderungen, aber
auch der neuen Gefahr des terroristischen Fundamentalismus, ordnet
sich das Politische neu.
Dieser Gestaltwandel begann mit dem Ende des von dem Historiker
Hobsbawm so genannten "kurzen 20. Jahrhundert", also mit dem "annus
mirabilis" 1989, der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR und
in Mittel- und Osteuropa. Sie brachte Freiheit und Demokratie, die
staatliche Einheit der Deutschen und das Zusammenwachsen der
getrennten Hälften Europas.
Die Zukunftsaussichten damals schienen uns allen günstig. Der
amerikanische Präsidentenberater Francis Fukuyama verkündete im
hegelianischen Duktus das "Ende der Geschichte", da nach dem
Systemzusammenbruch des Kommunismus jetzt die liberale Demokratie und
Marktwirtschaft endgültig "zu sich gekommen" seien und für die
Zukunft kein anderes System vorstellbar sei.
Doch gegenüber diesem Bild einer kommenden glanzvollen Epoche der
Demokratie und des friedlichen "Handelns und Wandelns" machte sich
bald eine doppelte Ernüchterung breit.
Zum einen musste sich nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz die
freiheitlichen Demokratien nun ausschließlich aus sich selbst,
positiv und ohne das Gegenbild einer totalitären Diktatur begründen.
Bald zeigte sich, dass auch die parlamentarische Demokratie von
einer schleichenden Auszehrung von innen bedroht war. Zu geringes
Wissen um Wertegrundlagen und abnehmendes Ansehen von Parteien und
Politik waren dafür Anzeichen.
Technologischer Fortschritt, Individualisierung, Wertewandel und
Globalisierung begannen immer stärker, unsere Gesellschaft zu prägen.
Aufgaben und Problemhorizont des Politischen begann sich deshalb
deutlich zu verändern. Handlungsspielräume schienen kleiner,
Abhängigkeiten größer und der Ort demokratischer Verantwortung immer
weniger identifizierbar geworden zu sein. Die alten Muster der
Problemlösungen in der Industriegesellschaft begannen immer weniger
zu greifen. Man ahnte, dass Demokratie auch konkurrenzlos scheitern
kann, wenn ihr Fundament geistig wie materiell erodiert.
Ohne Gegenbild die eigene demokratische Identität gedanklich zu
begründen wie praktisch zu vermitteln ist ein schwieriges
Unterfangen. Doch ein solches Bürgerbewusstsein wird notwendig sein,
wenn wir im 21. Jahrhundert grundsätzlich unsere Wertegrundlagen, vor
allem Freiheit, sichern wollen.
Zum anderen kamen die Erfahrungen von Extremismus, Nationalismus
und religiösen wie ethnischen Konflikten hinzu. Vor allem in
Südosteuropa haben wir gesehen, in welches Morden das hinführen kann
und vor welche Herausforderung das Politische dadurch gestellt ist.
Gegenüber dem früheren Souveränitätsdenken, das die
Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten festgeschrieben
hatte, wurde nun gerade das Eingreifen aus humanitären Gründen, zum
Schutz von Leib und Leben verfolgter Menschen, notwendig.
Verantwortung ging über nationale Grenzen hinaus.
   Die Welt rückt zusammen. Durch die Globalisierung haben wir es
mehr denn je mit unterschiedlichen Verständnissen des Zusammenlebens,
ethnischen Zugehörigkeiten, verschiedenen Religionen und Kulturen zu
tun. Es war der gerade jetzt viel diskutierte Aufsatz von Huntington,
der den möglichen "Zusammenprall der Zivilisationen" ins Visier nahm.
Viele Annahmen sind bei ihm aufgrund der Allgemeinheit seines
zugrunde gelegten Zivilisations- und Kulturbegriffs durchaus
kritisierbar.
Aber, und das ist wichtig, er machte darauf aufmerksam, dass sich
neben allem Positiven zumindest innerhalb der verschiedenen Kulturen
und Religionen auch ein Konflikt- und Gewaltpotential verbirgt,
nämlich dann, wenn es um fundamentalistische Sichtweisen geht. Der
Fundamentalismus lebt von radikaler Vereinfachung, von einfachen
Zuordnungen von Gut und Böse, von Identifizierung von Freund und
Feind.
Nebenbei bemerkt: Multikulturelles Zusammenleben ist deswegen auch
nicht, wie manche Grüne es glauben, eine Art dauerhaftes Straßenfest,
sondern bedarf der Zivilisierung durch Integration in die Grundwerte
freiheitlicher Demokratie.
Wie gefährlich ein solcher Fundamentalismus sein kann, hat der
jüngste Anschlag in New York und Washington gezeigt. Wir alle stehen
auch in diesen Tagen im Bann dieses bis dahin unvorstellbaren
Ereignisses. Wir trauern um die Toten, fühlen mit unseren
amerikanischen Freunden mit, stehen Ihnen mit unserer Hilfe und
Bündnissolidarität bei.
Dieser Anschlag zielte nicht nur auf die Vereinigten Staaten,
sondern ebenso auf die Werte und Normen zivilisierten Zusammenlebens
in der Welt. Der terroristische Fundamentalismus hat uns mit seinem
Anschlag wieder deutlich gemacht: Unser Zusammenleben beruht auf
Voraussetzungen, die wir als selbstverständlich hingenommen und
deswegen im Alltag zu wenig beachtet haben.
Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Freiheit beruht
auf Sicherheit. Sicherheit ist ein zentraler Teil von Frieden, und
ohne Frieden kann Freiheit kaum gelebt werden. Das Gewaltmonopol des
Staates, das war schon die neuzeitliche Begründung im "Leviathan" von
Thomas Hobbes, und die Bindung an das Recht sind Ausdruck dieses
Zusammenhangs. Deswegen darf auch nicht Freiheit gegen Sicherheit
ausgespielt werden, wie man es jetzt von manchen hört.
Allerdings auch nicht umgekehrt. Seit der Antike gab es die
Einsicht: Freiheit und Sicherheit bedingen einander - und stehen
zugleich in einem Spannungsverhältnis. Wir wissen ja aus unserer
eigenen historischen Erfahrung mit dem Terrorismus der RAF, welche
Anstrengung es erfordert, Sicherheit und rechtsstaatlichen Schutz
durchzusetzen und zugleich an der Geltung möglichst großer
Freiheitsspielräume festzuhalten. Es kommt entscheidend auf Maß und
Mitte an.
Beides, die Erosionserscheinungen unserer Demokratie und die neue
Bedrohung durch terroristischen Fundamentalismus, zeigen, wie sehr
sich Gedankenlosigkeit über die geistigen und lebensweltlichen
Voraussetzungen freiheitlicher Demokratie breit gemacht hat. Die
entstehende neue Ordnung des Politischen, die den innerstaatlichen
wie globalen Problemkonstellationen des 21. Jahrhunderts entspricht,
wird als erste Aufgabe sich wieder der Sorge um Bewusstsein wie
Geltungskraft dieser Voraussetzungen freiheitlicher Demokratie zu
widmen haben.
Darauf aufbauend wird Politik nüchtern analysieren müssen, was
sich an Veränderungen ergeben hat und ergeben wird. Auf dieser Basis
wird sie zu zeigen haben, wo wir umdenken müssen, was an
strukturellen Reformen notwendig ist, und welche Ressourcen dafür
einzusetzen sind.
Wir stehen vor tiefgreifenden Veränderungen in Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft. Soziale wie ökonomische Innovation und
Revitalisierung unseres Gemeinwesens können nicht allein Sache der
Parteien sein. Es muss von der Bürgergesellschaft insgesamt getragen
werden. Angesichts der sich immer weiter steigernden Komplexität und
Verflechtung unserer Lebensverhältnisse ist es jetzt unsere Aufgabe,
sich über die künftigen Grundlagen unseres Zusammenlebens, die
wichtigsten Problembereiche und Veränderungsmöglichkeiten zu
verständigen. Wir stehen am Beginn, nicht am Ende eines solchen
Prozesses. Die Zukunft ist in der Tat noch eine Werkstatt.
Einen roten Faden durch das Problemdickicht bietet uns der
Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant mit seinen berühmten drei großen
Fragen:
   Was kann ich wissen ?              
   ( - Die Wissensgesellschaft -)
   Was muss ich tun ?                   
   ( - Die Reformgesellschaft -)
   Was darf ich hoffen?                 
   ( - Die Weltgesellschaft -)
   Nach diesen drei Fragen will ich einige Gedanken ordnen, ohne
allerdings der Philosophie Kants im Einzelnen zu folgen.
Beginnen wir mit der ersten Frage: Was kann ich wissen?
Hier geht es um die Wissensgesellschaft.
Vielen richten dabei heutzutage den Blick auf die Entwicklung der
neuen Informations- und Kommunikationstechniken und deren Folgen für
die Wirtschaft. In der Tat entstehen durch die Kommunikations-,
Computer- und Internetwirtschaft radikal veränderte
Arbeitsstrukturen, neue Wertschöpfungsketten, neue Produkte. In der
entstehenden Verbindung von "Old" und New Economy" wird Wissen zu
einem entscheidenden Produktionsfaktor.
Das hat Konsequenzen nicht nur für die Arbeitswelt, sondern auch
für das System unserer Schulen und Hochschulen, nicht zuletzt für
unser gesellschaftliches Zusammenleben. Die Anforderungen dieses
Wandels zur entstehenden Wissensgesellschaft sind oft beschrieben
worden.
Ich möchte deswegen etwas grundlegendes in diesem Zusammenhang zur
Sprache bringen. Denn Wissen ist mehr. Es bezieht sich auch auf die
Fähigkeit des freiheitlichen Zusammenleben in unserer pluralistischen
Demokratie zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Lassen Sie mich drei Aspekte nennen, die nicht zuletzt aufgrund
der Bedrohung durch Terrorismus und Fundamentalismus neue Beachtung
erfordern.
Der erste Aspekt betrifft die paradoxe, gleichwohl fundamentale
Beschaffenheit aufgeklärter Politik und pluralistischer
Gesellschaften.
Keine Gesellschaft kommt ohne Sinn aus. Aber "offene
Gesellschaften" (Karl Popper) müssen um der Freiheit willen auf einen
vorgegebenen Sinn, der Identität stiftet, verzichten. Die Aufklärung
hat radikal Staat und Glaube getrennt. Der säkulare Staat ersetzt den
Gottesstaat mit absolutem Wahrheitsanspruch.
Was uns zumindest in der westlichen Welt so selbstverständlich
scheint, ist Ergebnis eines langen, blutigen europäischen
Lernprozesses. Erst nach Jahrhunderten - von den Kreuzzügen bis zum
30-jährigen Krieg, vom Westfälischen Frieden bis zur
Aufklärungsepoche - wuchs die Einsicht, dass um der Menschen willen
mit ihren unterschiedlichen Lebens- und Glaubensvorstellungen Politik
und Religion zu trennen sei.
Lessings Ringparabel hat gezeigt, dass die Weltreligionen aufgrund
des Toleranzgebots miteinander leben und einander achten können. Aber
keine Religion darf sich absolut setzen. Diese Trennung des "Letzten
vom Vorletzten" ist konstitutiv für unsere demokratische Gesellschaft
geworden. Keiner darf eine absolute, identitätsstiftende Wahrheit
vorschreiben.
Dies bedeutet auch, das in unserer Demokratie keine
identitätsstiftende Repräsentation des Volksganzen vorhanden sein
darf. Die Stelle, die in nichtdemokratischen Gesellschaften vom
religiösen Führer, Monarch oder Diktator ausgefüllt wird, muss leer
bleiben. Kein Bundeskanzler kann sagen: "Der Staat bin ich".
An die Stelle vorgegebenen Sinns treten immer wieder neu zu
interpretierende Vereinbarungen und Regeln des Zusammenlebens, treten
öffentliche Diskussionen und Einsicht in Begründungen, treten
Institutionen der Selbstregierung des Volkes wie Bundestag, Bundesrat
oder Bundesregierung, die nach Mehrheit, nicht nach Wahrheit
organisiert sind.
Dieser von manchen so empfundene Verlust einer vorgeschriebenen
Identität ist nichts anderes als der große Gewinn der Freiheit für
jedermann, die Freiheit für die Bürgergesellschaft, die ihre
Grundlagen selbst bestimmt und in der jeder nach seinen Vorstellungen
leben kann. Persönliche Identität ist an den jeweils eigenen
Lebensentwurf gebunden. Kollektive Identität ergibt sich aus den
Konflikten und Verständigungsprozessen der Bürgergesellschaft selbst.
Dieses Fundament einer freiheitlichen Gesellschaft, der Verzicht
auf vorgegebene Identität und Sinnrepräsentation, wird von anderen
Staaten und Kulturen oft nicht verstanden.
Damit richtig umzugehen fällt auch uns nicht immer leicht. Damit
zu leben erfordert starke Bürger.
Denn zum einen müssen wir uns als Bürger immer wieder neu
verständigen über Menschenwürde und Menschenrechte, über Grundwerte
und Normen. Keine Instanz nimmt uns mehr diese Verantwortung ab. Nun
könnte man auf unsere Verfassung verweisen. In den
Grundrechtsartikeln sind in der Tat Selbstverständnis und Normen
unseres Zusammenlebens festgelegt. Aber die beste Verfassung sinkt im
Wert, wenn sie nicht im Denken und im Herzen der Bürger verankert
ist.
Diese Sicherung der Geltungskraft zentraler Werte und Normen durch
uns Bürger selbst kommt im Alltag oft zu kurz. Sie ist und bleibt
gleichwohl entscheidende Verantwortung einer freiheitlichen
Bürgergesellschaft.
Zum anderen, auch das muss man sehen, ist diese Verantwortung
schwer zu tragen. Die Furcht vor der Freiheit und die Bürde dieser
Verantwortung haben wiederholt dazu geführt, der Sehnsucht nach
vorgegebener Identität nachzugeben.
Ohne Zweifel ist die Kraft der Verführbarkeit groß. Wir Deutsche
haben dies nicht zuletzt im 20. Jahrhundert äußerst schmerzlich
erfahren.
Gerade deswegen müssen wir uns klar machen:
Wir können uns nicht in einen Traditionalismus flüchten, der
gesellschaftliche Werte und Regeln aus fraglos vorgegeben Traditionen
oder Konventionen verbindlich festschreibt.
Auch der Ausweg in die Zukunft muss versperrt bleiben. Das
säkulare Heilsversprechen an Identität und Sinnstiftung durch eine
künftige paradiesische kommunistische Gesellschaft hat sich als
utopischer Wahn entlarvt.
Und die Weimarer Republik hat den Versuch, die Demokratie durch
die sinnstiftende Ideologie einer homogenen nationalsozialistischen
Volksgemeinschaft zu setzen, mit der menschenverachtenden Diktatur
des nationalsozialistischen Totalitarismus teuer erkauft.
Unsere demokratische Gesellschaft ist zerbrechlich. Das Leben ohne
übergreifende Wahrheiten, ein Leben mit Risiko, Unbehagen und
Unsicherheit, das ist der Preis der Freiheit.
Die Demokratie lebt von der beständigen Selbstüberprüfung und
Erneuerung ihrer Grundwerte und Normen. Reflexion ist Daueraufgabe,
um dem Vergessen der Bedeutung der Grundwerte vorzubeugen, aber auch,
um sie in Bezug auf gewandelte Verhältnisse anwendbar zu machen.
In dieser Weise ist auch Leitkultur zu verstehen. Leitkultur - das
ist das große Selbstgespräch und die große Selbstverständigung der
Gesellschaft mit sich selbst über die eigenen Grundlagen und Ziele,
darüber, wie sie ist und wo sie hin will. Nur so entsteht moderne
Identität.
Sie kann verstanden werden als die Summe unseres
Orientierungswissen, der Ordnungsrahmen für unsere Wahrnehmungen,
Zuschreibungen und Einordnungen. So wie diese sich verändern,
verändert sich auch Identität. Sie ist nicht vorgegeben, sondern
immer wieder neu herzustellen. Die zivile Austragung unserer
Konflikte und die öffentliche argumentative Prüfung  tragen dazu bei.
Freiheitliche Gesellschaft, freiheitliche Demokratie, das ist eine
anstrengende Aufgabe.
Auch die politische Ordnung des 21. Jahrhunderts stehen unter dem
Paradox, Sinn und Identität zu brauchen, ohne sie verbindlich
vorgeben zu können. Wenn es nicht gelingt, diese Schwierigkeit
auszuhalten, könnten am Ende wieder Leichenberge stehen.
Denn neue Bedrohungen sind schneller Wirklichkeit geworden als
gedacht, wie die letzten Wochen gezeigt haben. Der Fundamentalismus,
auch im Gewande des Terrorismus, stellt eine grundsätzliche Bedrohung
der freiheitlichen Demokratie und der pluralistischen Gesellschaft
dar.
Er verweigert sich den Anstrengungen der Freiheit. Er gibt der
Sehnsucht nach vorgegebener Identität, nach Eindeutigkeit und klaren
Antworten in einer komplexen Welt nach. Machen wir uns nichts vor:
diese Sehnsucht ist in allen Teilen des Globus zu spüren. Sie
bestimmt auch den aktuellen Terrorismus Fundamentalismus gibt es
allerdings auch bei uns, wie extremistische Bestrebungen von rechts
und links zeigen.
Sicherheitspakete zu schnüren ist angesichts dieser Lage
unabdingbar. Aber, das wird immer klarer, ohne geistige
Auseinandersetzung, die die Grundlagen freiheitlichen Zusammenlebens
wieder ins Bewusstsein rückt, wird man der Bedrohung nicht dauerhaft
Herr werden können.
Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen: nämlich das
Orientierungsproblem in der Wissensgesellschaft.
Mehr als jede Gesellschaft zuvor beruht die Wissensgesellschaft
auf Vertrauen. Im agrarischen Deutschland vor hundert Jahren - rund
70 % arbeiteten in der Landwirtschaft - hatten die Menschen noch eine
unmittelbare Anschauung von den eigenen sozialen Lebensbedingungen.
Moderne Arbeitsteilung, Differenzierung und Spezialisierung führen
dazu, dass wir immer mehr auf Leistung, Solidität und Qualität von
Anderen bauen müssen, ohne über eine eigene Anschauung zu verfügen.
Vertrauen wird damit zum entscheidenden sozialen Kitt unserer
Gesellschaft.
Hinzu kommt die zunehmende Schnelligkeit des Wandels, die zur, wie
es der Philosoph Hermann Lübbe sagt, "Gegenwartsschrumpfung" führt.
Es handelt sich um die Erfahrung, dass sich die Zahl der Jahre
immer mehr verkürzt, für die wir in der Arbeit, in der Wirtschaft, im
Alltag mit einigermaßen konstanten Lebensverhältnissen rechnen
können. Alt heißt ja heute nicht mehr Verschleiß und Verbrauch,
sondern dass das neue technisch bessere Produkt das bisher Gebrauchte
ersetzen.
Ähnlich kann man es für die Gesellschaft sagen. Der Prozess des
Wandels ist so schnell, dass bereits in der Familie alle drei
Generationen unterschiedliche Ansichten, Vorstellungen und
Lebensentwürfe haben. Manche Soziologen sprechen sogar von einem
Zehn-Jahre-Rhythmus. Erwachsenwerden kann sich heute immer weniger
auf einen stabilen Rahmen an tradierten Orientierungswissen
verlassen. Die Gefahr der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen
(zumal in den Städten) wächst, die Suche nach eigenen Orientierungen
nimmt zu.
Wir sehen diesen Prozess auch in der Wissenschaft. Die
Halbwertszeit von Wissen beträgt im Durchschnitt etwa fünf Jahre, in
einigen Bereichen wie beispielsweise in den Lebenswissenschaften
sogar nur etwa zwei bis drei Jahre.
In Wirtschaft und Gesellschaft ist es nicht anders. In immer
kürzeren Abständen werden wir mit neuen Erkenntnissen,
gesellschaftlichen Trends, Produkten und Dienstleistungen
konfrontiert.
Früher hatten die Menschen über Generationen Zeit, sich an
Entwicklungen anzupassen, heute nicht. In der Wissensgesellschaft
brauchen wir deshalb eine höhere mentale Flexibilität, auf die bisher
viele nicht vorbereitet sind.
Gerade in Deutschland gibt es eine stärkere Kluft zwischen
Erkennen und Handeln als in manchen anderen Staaten der Europäischen
Union. Wir wissen aus Umfragen, dass die Deutschen zwar reformbereit
sind, aber nur allgemein, bei sich selbst möchte die Mehrzahl alles
beim Alten lassen.
Ein Beispiel: Der Aussage "Der globale Wettbewerb, der
wirtschaftliche Strukturwandel und die digitale Technik lösen große
Veränderungen aus" stimmen 87 % der Deutschen zu. Aber nur 38% sind
der Meinung, dass sie von diesem Wandel der Arbeitswelt persönlich
betroffen seien ( EU-Durchschnitt: 63%).
Ähnlich bei der Weiterbildung: 92 % der Deutschen halten sie für
unumgänglich, nur 55 % sind tatsächlich dazu bereit.
88 % der Deutschen halten die neuen Kommunikations-technologien
für wichtig, nur 41 % erwarten, dass sie von dieser Entwicklung
persönlich betroffen sind. In der "mentalen Zukunftsfähigkeit" sind
wir nur europäisches Mittelmaß, wo wir Spitzenreiter sein sollten.
Aufgabe der Wissensgesellschaft wird es sein müssen, Vertrauen in
die hochdifferenzierte Welt herzustellen oder zu unterstützen. Das
wird nur durch Transparenz, Aufklärung, Offenheit und Teilhabe zu
organisieren sein. Wenn man sieht, wie viele Besucher allein die
Berliner "Woche der Wissenschaft" angezogen hat, weiß man, wie groß
der Bedarf dafür ist.
Angesichts der schnellen Alterung von Wissen wird es auch genuine
Aufgabe der Wissensgesellschaft werden, lebenslanges Lernen zu
organisieren. Bis auf die traditionellen Einrichtungen des tertiären
Bildungssektors haben wir noch keine Einrichtungen dafür.
Eine wichtige Zukunftsfrage wird daher sein, wie wir kreatives
Denken, beständige Wissenserneuerung und Lebenserfahrung wieder
stärker mit einander vermitteln können. Die Bildung
interdisziplinärer Netzwerke kann dazu beitragen. Sie sind für
Wissenschaft und Forschung ebenso notwendig wie für die Wirtschaft.
Da auch in den Familien immer mehr die einzelnen Generationen von
einander getrennt leben und eigenständige Lebenserfahrung besitzen,
muss auch hier wieder generationenübergreifende Lebenserfahrung
organisiert werden. Schüler unterrichten inzwischen Senioren im
Bereich Computer und Internet. An Universitäten lernen junge und alte
Studenten gemeinsam. Familien integrieren "Wahlomas", nicht nur aus
Betreuungsgründen.
Ein wichtiger Teil dieser "Gegenwartsschrumpfung" wird vom
wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt und der Umsetzung in der
ökonomischen Produktion getragen. Lassen Sie mich deswegen als
dritten Aspekt die Rolle von Wissenschaft und Wirtschaft nennen.
Max Weber hat den Prozess der "Entzauberung der Welt" beschrieben.
Der Prozess von Rationalisierung, wissenschaftlicher Erkenntnis und
technologischer Gestaltung ist Grundlage von Wirtschaft und
Gesellschaft geworden. Das ist nicht mehr hintergehbar, es sei den
zum Preis der Missachtung von Menschenrechten und  radikaler
Wohlstands und Kulturverluste. Das kann nur mit erheblichem Zwang
gehen, wie das Beispiel Afghanistan zeigt.
es folgt Teil 2

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  • 10.10.2001 – 11:36

    CDU/CSU-Bundestagsfraktion / Merz/Böhmer/Eichhorn: Faire Politik für Familien

    Berlin (ots) - Zum Fraktionsbeschluss der Union "Faire Politik für Familien" erklären der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz MdB, die Stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Prof. Dr. Maria Böhmer MdB und die Vorsitzende der Arbeitsgruppe Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Unionsfraktion, Maria Eichhorn MdB: Ehe und Familie sind ...

  • 10.10.2001 – 10:27

    CDU/CSU-Bundestagsfraktion / Riegert: Goldener Plan Ost nach nur 4 Jahren ein Auslaufmodell?

    Berlin (ots) - Zu dem Goldenen Plan Ost erklärt der sportpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Klaus Riegert MdB: Wahrlich "golden" - mit 100 Millionen DM jährlich - sollte er ausgestattet sein, der von der SPD im Wahlkampf 1998 propagierte "Goldene Plan Ost". Er sollte eine neue Ära des Sportsstättenbaus in den neuen Ländern einläuten. ...