FZ: "Getroffen wurde Amerika - gemeint waren wir alle"
Gastbeitrag von Ex-Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) zum 10. Jahrestag von 9/11 in der "Fuldaer Zeitung" (10. September 2011)
Fulda (ots)
Ein Hochhaus brannte. Ich sah ein Flugzeug; es raste in den zweiten Turm. Gerade war ich in mein Büro zurückgekehrt. Urplötzlich verstand ich: New York, ein Anschlag, Terror. Ich war entsetzt, wütend, traurig - und hatte Angst: Was ist mit meiner Tochter in New York? Keine Chance, sie zu erreichen. Gleichzeitig der Ruf nach den engsten Mitarbeitern im Verteidigungsministerium; der Anruf im Kanzleramt; die rasende Fahrt durch Berlin; die Nachricht von einem dritten Flugzeug, das im Pentagon in Washington detonierte; das Treffen mit Kanzler, Außenminister. Alle waren wir aufgewühlt. Aber politische Führung kann nicht gründen auf persönlicher Befindlichkeit. Klare Informationen hatten wir noch nicht: Wer sind die Attentäter? Hat sie jemand gesteuert? Von wo? Was kommt noch? Sind unsere Bürger bedroht? Sind Flugzeuge die einzige Waffe? Nur so viel war am Nachmittag und Abend des 11. September 2011 klar: Getroffen waren die Symbole amerikanischer Macht, gemeint waren wir alle. Du musst in solchen Situationen klaren Kopf bewahren. Das, denke ich, ist Kanzler Schröder und seinen Ministern gelungen. Zuerst ging es um eine gemeinsame politische Reaktion. So beschloss die Nato am Tag danach, dass man sich gemeinsam verteidigen werde gegen Angriffe von außen. Am gleichen Tag autorisierte der Weltsicherheitsrat alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz vor weiteren Angriffen und gegen deren Hintermänner. Heute wird kolportiert, die USA hätten ein Engagement der Nato nicht gewollt. Man beruft sich auf Ex-Vizepräsident Cheney und Ex-Verteidigungsminister Rumsfeld. Für die beiden mag das vielleicht zutreffen, nicht aber für die US-Regierung und den Präsidenten der USA. Selbst wenn: Was ist ein Bündnis wert, wenn es nicht gemeinsame Interessen und Werte verteidigt? Vor allem: Was wäre dann mit unseren eigenen Interessen? Dem westlichen Zusammenhalt verdanken wir den Schutz der Freiheit im Kalten Krieg bis hin zur Deutschen Einheit. Wegducken, wenn es die USA trifft, das ist keine Option. Und es ist ja bis heute so, dass wir in Europa nicht wirklich in der Lage sind, uns wirksam gegen Gefahren über große Distanzen nur mit eigenen Mitteln zu schützen. Der 11. September 2011 hat dreitausend Menschen das Leben gekostet; meine amerikanischen Freunde fühlen sich immer an Pearl Harbour 1941 erinnert. Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, dann sehe ich die Menschen aus den Fenstern springen, in den sicheren Tod. Ja, als politisch Handelnder muss man klaren Kopf bewahren - aber das heißt doch nicht, die Gefühle zu unterdrücken oder die Empathie mit Freunden und ihren Toten. Bald nach dem 11. September 2001 war auch klar: Die Zentrale der Terroristen sitzt in Afghanistan. Die USA handelten. Wer konnte, der half. Also unterstützten wir, gewissermaßen im "Hinterland" und in Deutschland: US-Einrichtungen bewachen, Luftüberwachung in den USA und Europa unterstützen, Seewege sichern, Kuwait gegen mögliche Bedrohungen mit biologischen oder chemischen Waffen helfen. Das entsprach deutschen Interessen: gemeinsam handeln, Freundschaften pflegen, Bündnisse gestalten. In anderen Worten: Europa voranbringen und das Bündnis mit den USA und Kanada - wenn man so will: die beiden Augäpfel gemeinsamer und auch deutscher Interessen - zu hüten. Heute scheinen diese vitalen deutschen Interessen nicht mehr gut austariert. Die Stimmenthaltung Deutschlands im Weltsicherheitsrat der UN in der libyschen Sache ist mehr als eine Blamage; sie verstieß gegen substantielle deutsche Interessen und wird ihren Preis fordern. Klar: Man kann und muss unterschiedliche Meinungen austragen. Brandt tat das in der Ostpolitik, die letztendlich zu Frieden und Entspannung führte und Voraussetzungen schuf zu Fall der Mauer und zur deutschen Einheit. Wer erinnert noch, dass damals die USA auf die Erdgas-Röhren-Vereinbarung zwischen der BRD und der UdSSR mit zeitweiligen Handelseinschränkungen reagierten? Kaum war ein erster Erfolg im Kampf gegen den Terror absehbar, musste die nächste Frage beantwortet werden: Afghanistan sich selbst überlassen - mit vollem Risiko des neuerlichen Taliban-Terrors nach innen und des Al-Kaida-Terror nach außen? Was wäre wohl geworden aus Afghanistan, ohne Engagement vor Ort? Was wäre geworden ohne die fortdauernde Zusammenarbeit unserer Streitkräfte, Nachrichtendienste oder anderer Organe unserer Sicherheit? Bisher haben wir in Deutschland nichts Vergleichbares erfahren müssen wie Madrid oder London mit den Anschlägen auf Menschen in Vorortzügen oder U-Bahnen; Versuche gab es auch in Deutschland - und führten wir nicht auch lange Debatten über gezielt herbeigeführte Flugzeugabstürze in deutsche Atomkraftwerke? Unsere Sicherheitsorgane leisten gute Arbeit. Wahrscheinlich hatten wir auch Glück. Das aber ersetzt gemeinschaftliche Vorsorge nicht. Sie dient unserer Freiheit und deren Schutz. Wie ein fürchterliches Blitzlicht enthüllte 9/11 eine Herausforderung: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat sind alles andere als selbstverständlich oder gottgegeben. Man muss sie verteidigen wollen und verteidigen können.
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