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General-Anzeiger: Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof im Interview: "Jeder Euro muss das Gleiche wert sein" (Wortlaut)

Bonn (ots)

Vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder verspottet, von seiner Nachfolgerin Angela Merkel fallen gelassen: Der renommierte Verfassungs- und Steuerrechtler Paul Kirchhof stand 2005 im Kompetenzteam der Union für die Bundestagswahl. Schon damals forderte der ehemalige Bundesverfassungsrichter einen Umbau des Steuersystems. Mit Kirchhof sprach Ulrich Lüke.

Herr Professor Kirchhof, wie fühlt man sich heute, fünf Jahre, nachdem Sie die SPD geringschätzig als "dieser Professor aus Heidelberg" tituliert hat? Kirchhof: Ich bin stolz, ein Professor aus Heidelberg zu sein. Professor ist ein Ehrentitel, Heidelberg ist eine erstklassige Adresse.

Haben Sie die Kandidatur damals als Finanzminister einer bürgerlichen Koalition bereut? Kirchhof: Nein. Ich möchte keinen Tag missen, aber auch keinen hinzufügen.

Der Staat macht als Tribut an die globale Finanzkrise mehr Schulden denn je. Kann man da noch Steuersenkungen fordern? Kirchhof: Wir müssen zunächst einmal die Steuern vereinfachen. Der Bürger will den Maßstab seiner Steuerlast verstehen und seine Steuererklärung verantwortlich unterschreiben. Sodann muss er wissen: Wenn ich vom Staat etwas haben will, Sicherheit, Straßen, Schulen, dann muss ich dafür bezahlen. Der Staat kann als Wohltäter nur geben, was er vorher als Übeltäter genommen hat. Diese Klarstellung ist insbesondere in einem hoch verschuldeten Staat notwendig, der sich zu viele Aufgaben aufbürdet.

Was so nicht bleiben kann...

Kirchhof: Das wäre dann der zweite Schritt. Wir müssen die Staatsverschuldung kategorisch zurückführen: Keine Neuverschuldung, sondern Schuldenabbau. Wir leben im Moment zu Lasten der Kinder über unsere Verhältnisse. Wenn wir ihnen diesen ungeheuren Schuldenberg aufladen, werden diese Kinder den Generationenvertrag kündigen.

Ist ein niedriges, einfaches und gerechtes Steuersystem nicht ein Widerspruch an sich? Kirchhof: Nein. Wenn alle Ausnahmetatbestände aus dem Steuerrecht herausgenommen werden, haben wir mehr Steuergleichheit, eine Ausweitung der Steuerzahler, ein höheres Steueraufkommen. Das geben wir durch Absenkung der Steuersätze und einen Freibetrag von 10 000 Euro für jeden Menschen zurück - bei einem Einheitssatz von 25 Prozent.

Den gibt es doch schon für Kapitaleinkünfte... Kirchhof: Richtig. Und deshalb stellt sich jetzt die Gerechtigkeitsfrage. Denn dieses Gefälle - ein Viertel Steuern auf Kapital, fast bis zur Hälfte Steuern auf Arbeit - ist nicht die Gerechtigkeit, die wir uns in Deutschland wünschen. Dieses System kann so nicht weitergelten. Und deshalb gibt es jetzt die große Chance zur fundamentalen Reform.

Sie haben die Deutschen ein Volk von Steuerakrobaten genannt, weil sich gerade Wohlhabende arm rechnen können. Ist das Teil der Gerechtigkeitsfrage? Kirchhof: Das ist der erste und der wichtigste Teil. Jeder Euro muss das Gleiche wert sein, ob er aus Land- und Forstwirtschaft, aus gewerblicher, aus freiberuflicher Tätigkeit oder aus unselbständiger Arbeit kommt: Euro ist Euro. Das ist das Ideal. Die Wirklichkeit ist eine ganz andere: Es gibt zahllose Ausnahmetatbestände. Sie können steuerbegünstigt in den Film, in die Schifffahrt, in Denkmäler, in die Solarindustrie, ja sogar in Schrottimmobilien investieren. Das Gesetz schickt Menschen in die ökonomische Torheit. Das kann so nicht bleiben.

Ist Nicolas Sarkozy aus Ihrer Sicht auch ein Tor? Der französische Präsident hat gerade das deutsche Steuersystem im Blick auf die Unternehmen als Vorbild bezeichnet. Kirchhof: Das ist eine erstaunliche Äußerung. Ich habe ein Problem, wenn ich meinen Studenten dieses System mit all seinen Ausnahmen, Torheiten, Ungleichheiten - wenn ich ihnen dieses Unrecht vermitteln soll. Das kann ich eigentlich nicht verantworten.

Die Grünen plädieren für eine massive Umverteilung auch mit Hilfe des Steuerrechts. Sie auch? Kirchhof: Wenn ich eine Steuer von 25 Prozent habe, dann zahlt der Chef, der eine Million verdient hat, 250 000 Euro in die Staatskasse. Seine Sekretärin, die 20 000 verdient, zahlt rechnerisch 5 000, wegen der Freibeträge aber nur 1 250 Euro. Das ist gerecht: Wer viel verdient, zahlt viel; wer maßvoll verdient, maßvoll. Wenn das so gemeint ist, ist das richtig. Wenn damit gemeint ist, der eine dürfe gar nicht eine Million verdienen, ist das ein Missverständnis. Denn Freiheit heißt, sich unterscheiden zu dürfen. Das ist ein Grundgedanke unserer Verfassung. Diese Verschiedenheit soll es geben. Wer das nicht erträgt, erträgt die Freiheit nicht.

Das kann aber höchst ungerecht sein.

Kirchhof: Van Gogh, für dessen Bilder es heute fast eine Million gibt, ist beinahe in Armut gestorben, weil seine Zeit seine Leistung nicht erkannt hat. Robert Schumann, der noch heute die Konzertsäle füllt, ist in Armut gestorben, weil er seiner Zeit voraus war. Doch welches Recht hätte die Menschen damals zwingen sollen, diese Leistungen zu honorieren?

Tut der Staat - Stichwort Schuldenbremse - genug gegen neue Schulden? Kirchhof: Die Schuldengrenze im Grundgesetz ist ein großer Fortschritt. Das bisherige System, sich so hoch verschulden zu dürfen, wie man investiert, ist kleinmütig gewesen. Im Privatleben käme niemand auf die Idee, von seinen Kindern 200 000 Euro für ein Haus zu verlangen, das diese später einmal erben. Die andere Begründung für Verschuldung war die Konjunktursteuerung. Mittelfristig hat diese Konjunktursteuerung unsere Konjunktur wegen der entstehenden Schulden niedergedrückt. Der Bund zahlt in diesem Jahr 41 Milliarden Euro Zinsen. Tendenz steigend. Wie könnte man mit diesem Geld Infrastruktur und Konjunktur beleben! Wir müssen die Staatsverschuldung als Normalfinanzierung ächten. Diese Verschuldung im Übermaß ist unseren Kindern gegenüber nicht anständig.

Hat die Krise die Moral in der Wirtschaft - Stichwort Bankerboni - verstärkt? Kirchhof: Das Ideal des ehrbaren Kaufmanns, das Ideal des lauteren Wettbewerbs hat in der Finanzkrise kein Maß gesetzt. Grenzenlose Freiheit ist Willkür. Wenn jemand für schlechte Leistungen auch noch Boni verlangt, ist das nicht in Ordnung. Wenn jemand bewusst Kredite versichert, die nicht bedient werden können, ist das Betrug. Wie beim Autofahrer, der bewusst einen Unfall baut und dadurch die Versicherung betrügt.

Gibt es nennenswerte Gegenleistungen der Wirtschaft an den Staat? Kirchhof: Wenn der Staat einen Rettungsschirm aufspannt, stellt er die großen Unternehmen ins Trockene, die kleinen lässt er im Regen stehen und die Steuerzahler stellt er in die Traufe. Das System können wir so nicht fortführen. Wir hatten nach 1945 eine große Krise in Deutschland, politisch, wirtschaftlich, moralisch. Jeder war in Freiheit auf sich zurückgeworfen. Rettungsschirme gab es nicht. Ergebnis: Eine gefestigte Demokratie, ein Wirtschaftswunder. Vergleichen Sie das mit der Kleinmütigkeit, mit der die heutige Krise gemanagt wird. Wir müssen zurück zu der freiheitlichen Idee, dass jeder auf eigene Rechnung handelt. Auf eigene Chance, aber auch auf eigenes Risiko.

Wie souverän sind die Nationalstaaten eigentlich in so einer Finanzkrise noch? Kirchhof: Die Staaten haben durch ihre große Verschuldung ein Stück an Souveränität verloren. Je höher die Verschuldung, desto weniger souverän der Staat. Verschuldung verschiebt Staatsmacht auf den Finanzmarkt.

Eine zugegeben pauschale Frage: Wir haben Europa jahrzehntelang gelobt. Ist die EU noch auf dem richtigen Weg? Kirchhof: Das Faszinosum Europa wird niemand, der es erlebt hat, in Frage stellen. Wir müssen aber handwerklich sorgfältig arbeiten, dass sich die EU und die Währungsunion nicht selbst gefährden. Wir organisieren dort die Unverbindlichkeit verbindlichen Rechts. Das ist bedrohlich. Es bedroht das Recht, es bedroht den Euro. Stellen wir uns vor, wir hätten die Kraft gehabt, die Beachtung verbindlichen Europarechts in der Verschuldensfrage zu garantieren. Keiner hätte die Neuverschuldung über drei Prozent BIP gesteigert. Dann hätten wir keine Finanzkrise. Wir wären der stärkste Partner im Weltmarkt.

Ihre Therapie? Kirchhof: Europa hat heute sehr viele Kompetenzen, es neigt zu einer Überproduktion von Recht, es pflegt eine gewisse Behäbigkeit der Bürokratie. Ein guter Europäer achtet heute darauf, dass Europa ein schlanker, ranker David bleibt. Nicht ein in die Jahre gekommener Herr mit Übergewicht. Und es ist gut, wenn unser Bundesverfassungsgericht, dieser Reparaturbetrieb unserer Demokratie, da besonders wachsam ist.

Stichwort Demokratie: Zeigt Stuttgart 21, dass wir mehr direkte Demokratie brauchen? Kirchhof: Nein, wir müssen darüber nachdenken, ob ein solches Planungsverfahren 15 Jahre dauern darf. Die Akteure von damals gibt es heute ja gar nicht mehr. In drei Jahren muss eine solche Planung abgeschlossen sein. Aber bei Stuttgart 21 ist entscheidend: Nur der Bund hat hier zu entscheiden. Das Land Baden-Württemberg, die dortigen Bürger können das Projekt gar nicht stoppen, auch wenn Politik und Medien jetzt diesen Eindruck erwecken.

Was kann in Stuttgart denn noch entschieden werden? Kirchhof: Über das Bahnprojekt entscheidet der Bund. Insoweit wäre noch nicht einmal eine Volksbefragung zulässig, geschweige denn ein Volksentscheid.

Also in Stuttgart geht gar nichts? Kirchhof: Doch: Wenn der Bahnhof unter der Erde ist, können die Stuttgarter mitentscheiden, was aus den neuen Freiflächen wird: Da kann man einen Park schaffen oder sprudelnde Quellen, Kindergärten oder auch Hochhäuser, wie es der Bürger will.

Könnte es sein, dass Stuttgart 21 auch ein Protest ist gegen schwindenden Einfluss der Bürger etwa bei Wahlen? Kirchhof: Das könnte sein. Erinnern wir uns beim Thema Steuern an die Verheißungen vor der Wahl. Davon ist bis heute kaum etwas umgesetzt. Das muss den Bürger enttäuschen. Er geht dann nicht mehr zur Wahl, sondern in die innere Emigration.

Es hängt manchmal auch an Koalitionspartnern, dass Versprechen nicht wahr werden... Kirchhof: Deshalb müssen wir unser Wahlrecht reformieren. Die Parteien müssen vor der Wahl verpflichtend sagen, mit wem sie koalieren werden. Dann würden wir mit der Mehrheitskoalition auch die Regierung unmittelbar wählen, nicht nur zu Koalitionsverhandlungen ermächtigen, so dass man vielleicht erst drei Wochen nach der Wahl weiß, wer wirklich gewonnen hat.

Das geht ohne Verfassungsänderung aber gar nicht. Kirchhof: Natürlich nicht. Aber man darf darüber nachdenken, wie dieses demokratische System Grundgesetz, das ein Glücksfall ist, aber nach 60 Jahren hier und da etwas müde geworden ist, verbessert werden kann.

Pressekontakt:

General-Anzeiger
Kai Pfundt
Telefon: 0228 / 66 88 423
k.pfundt@ga-bonn.de

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