Schriftsteller Orhan Pamuk klagt über Aufschwung nationalistischer Gefühle in der Türkei
Hamburg (ots)
Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk beobachtet in seiner Heimat ein Wiedererwachen des Nationalismus. "Es gibt ganz offensichtlich einen Aufschwung nationalistischer Gefühle", sagt Pamuk der ZEIT und ergänzt: "Wo sich Länder mit großer Anstrengung an die EU angenähert haben, erblüht auch der Nationalismus. Die Gegner ergreifen ihre letzte Chance und verbreiten Angst: Ihr werdet eure Identität verlieren."
Dennoch sieht Pamuk zur Annäherung der Türkei an die EU keine Alternative. In der Reformpolitik der regierenden AKP von Ministerpräsident Erdogan sieht er eine Bestätigung seiner These, dass die europäische Idee selbst Fundamentalisten zu Liberalen machen kann: "Wir hatten traditionell ein sehr starres System der politischen Repräsentation. Die Möglichkeit des EU-Beitritts hat alles durchgeschüttelt. In jedem Lager - bei den Linken, den Rechten, den Islamisten, den Kemalisten - hat sich das Schubladendenken erledigt. Bei uns regieren jetzt proeuropäische Islamisten. Die haben irgendwann verstanden, dass man mit proeuropäischer Politik Wahlen gewinnen kann, weil die Wähler sich davon eine Verbesserung ihres Lebens versprechen." Pamuk weiter: "Ich sehe die Zukunft der Türkei in Europa, als ein prosperierendes, tolerantes, demokratisches Land unter anderen ... In den mehr als zehn Jahren hat sich das Land stark verändert. Wenn Sie die Reaktionen auf meine Bemerkungen über unsere Vergangenheit einmal beiseite lassen, muss man sagen: Wir leben heute in einer anderen Türkei."
Bei einer nationalistischen Demonstration wurden Pamuks Bücher verbrannt; ein Landrat ordnete die Entfernung seiner Bücher aus den Bibliotheken an; im Bezirk Isparta wurden Fotos des Schriftstellers bei einer Kundgebung zerrissen; in der Zeitung Hürriyet wurde er als eine "elende Kreatur" beschimpft. Der Internationale PEN fordert nun die türkische Regierung auf, die Attacken auf den Autor zu verurteilen. Pamuk hat aus Sicherheitsgründen eine Lesereise nach Deutschland abgesagt, bei der er seinen neuen Roman "Schnee" (Hanser Verlag) vorstellen wollte.
Das komplette Interview der ZEIT Nr. 16 vom 14. April 2005 senden wir Ihnen gerne zu.
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