Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Christian Kucznierz zu Asyl/Sachsen
Regensburg (ots)
An die besorgten Bürger von Clausnitz: Ihr seid nicht das Volk. Ihr, die ihr Menschen in Angst versetzt, seid eine Gruppe erbärmlicher Rassisten. Ihr, die ihr euch auf die Straße stellt und "Wir sind das Volk" skandiert, habt nichts verstanden. Nicht, was dieser Satz einst bewirkt hatte: den Sturz eines Systems, das euch, die ihr grölt und hasst, einst in Unfreiheit gehalten hatte. Ihr habt nicht verstanden, dass ihr in Sicherheit und Frieden lebt und dass die, die im Bus sitzen, immer noch auf dem Weg in eine Sicherheit sind, die eure besorgten Gesinnungsgenossen abfackeln. Vor allem habt ihr nicht verstanden, dass das Volk, das ihr behauptet zu sein, nicht das ist, zu dem ich gehören möchte. Oder die meisten der Menschen in diesem Land gehören wollen. Mindestens diejenigen jenseits der zwölf Prozent, die die AfD wählen wollen, diese Partei, die euch zumindest duldet, meist aber bewusst fördert. Es wird Zeit, dass euch das jemand sagt. Dieser jemand aber schweigt. Einmal wieder. "Wir schaffen das" war auch so ein Satz für die Geschichtsbücher, einer, der bis heute wichtig ist. Weil er dem vermeintlichen Chaos der Flüchtlingskrise, das in Wirklichkeit eine Folge lange vernachlässigter Politik ist, eine Richtung gab, ein Ziel. Aber der Satz blieb im Raum stehen. Er wurde nicht mit Taten gefüllt. Angela Merkels Macht ist nicht die des Wortes, aber dieses Mal hat sie mit Worten regiert. Sie hat nur vergessen auszuführen, wie dieses Schaffen zu bewerkstelligen ist. Sie hat die Deutungshoheit über ihre Politik abgegeben. An diejenigen, die ihrem Weg nicht folgen wollten. Die aus dem Schaffen ein Ding der Unmöglichkeit machen wollten. Weil nicht sein darf, was nicht sein kann. Merkel überließ es den Rechten, diesen Satz zum Feindbild zu machen. Sie überließ es ihrer Partei, darüber zu streiten, wie die Flüchtlingssituation in den Griff zu bekommen ist. Sie überließ der CSU das Feld am rechten Rand, weil sie weiß, dass Horst Seehofers Partei auch dazu da ist, die anzusprechen, die andere Parteien nicht erreichen. Die Kanzlerin kümmerte sich derweil um Europa, das in ihrem Kalkül eine entscheidende Rolle spielen sollte. Europa ließ sie im Stich. Die Türkei, dritter Partner ihrer Rechnung, ebenso. Daheim zerstritt sich die Koalition angesichts unlösbarer Aufgaben für Kommunen und Landesregierungen angesichts der weiter steigenden Zahl der Flüchtlinge. Und in ihrer Verzweiflung rutschte die deutsche Politik nach rechts. Zwölf Prozent AfD sind auch zwölf Prozent der Bevölkerung, die alle Parteien von Union bis SPD verloren oder zumindest nicht gewonnen haben. Die deutsche Politik hat sich von den Rechten einen Diskurs der Flüchtlings-Abwehr aufzwingen lassen, spätestens seit der Silvesternacht von Köln. Nein, Seehofer und Co. haben nicht den Boden bereitet, auf dem der rechte Mob in Clausnitz, Bautzen und andernorts nun grölend hockt. Sie alle haben nur nichts dagegen getan, dass die Rechten Boden gutmachen konnten. Sie haben keine Gegenvision entwickelt, sondern nur eine abgeschwächte Version dessen, was AfD, Pegida und Co. fordern. Müssen wir also damit leben, dass es da ein Volk im Volk gibt, ein zehn-Prozent-plus-X-Völkchen völkischer Prägung? Wahrscheinlich. Andere europäische Staaten haben damit schon viel länger zu kämpfen. Nur darf diesem Völkchen nicht die Straße überlassen werden, nicht die Gewalt auch gegen die Polizei, die das Gewaltmonopol des Staats verteidigt. Genau das aber ist passiert. In Clausnitz hat die Staatsmacht vor dem Pöbel versagt. Es gibt viel zu klären in diese Sache. Aber zu begründen, warum es dem Schutz der Flüchtlinge dient, sie trotz Angst aus einem Bus zu zerren, anstatt die grölende Menge davor aufzulösen, wird interessant werden. Genauso interessant, wie zu erklären, warum der Leiter einer Asylunterkunft Mitglied der Partei ist, die über den Schusswaffeneinsatz gegen flüchtende Menschen faselte. Deutschland muss sich überlegen, was für ein Land es sein möchte. Die Kanzlerin muss dazu einen Vorschlag machen. Sie muss erklären, wann das geschafft ist, was sie schaffen will, und wie sie das erreichen will. Sie muss die Deutungshoheit über das Geschehen wieder gewinnen und dafür sorgen, dass ihre Kritiker verstummen, vor allem in den eigenen Reihen. Sie muss dazu die Debatte von der Straße und den Talkshows dahin zurückholen, wo sie hingehört: in den Bundestag. Vielleicht muss sie dazu auch fragen, ob die gewählten Vertreter der Bürger ihr noch vertrauen. Und dann Politik machen: gegen Rechts, gegen Rassismus, gegen Ängste. Es ist höchste Zeit.
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