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WAZ: Das Problem "Sozialprognose": Der schnelle Schrei nach Sühne - Kommentar von Tobias Blasius

Essen (ots)

Urteile ergehen im Namen des Volkes. Doch zwischen
rechtsstaatlicher Praxis und öffentlichem Rechtsempfinden tut sich 
zuweilen eine gewaltige Kluft auf. Fälle wie der des 44-jährigen Ralf
G. verschärfen den Gegensatz zwischen der Buchstabentreue des 
Gesetzes und dem Bauchgefühl vieler Bürger. Zwei Menschen hat der 
Mann umgebracht, 21 Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht. Nun
steht er im Verdacht, im Dezember eine Essener Café-Mitarbeiterin 
getötet zu haben. Eine "günstige Sozialprognose" bescherte ihm 2004 
die vorzeitige Haftentlassung. Die Psychiater glaubten, den 
zweifachen Totschläger erneut auf die Gesellschaft loslassen zu 
können.
Der Schrei nach Sühne gehört in solchen Fällen zu den 
verständlichen, ja fast reflexhaften Reaktionsmustern. Der frühere 
Bundeskanzler Schröder, der auf der Klaviatur des Populismus zu 
klimpern verstand wie wenige, hat diese allgemeine Aufwallung einmal 
zu der Empfehlung verdichtet, mit Schwerkriminellen kurzen Prozess zu
machen: "Wegsperren - und zwar für immer". Diese Form der 
Vereinfachung schickte sich weder für den Staatsmann Schröder noch 
für den Juristen Schröder, gewiss aber traf er einen Nerv vieler 
Leute. Nur: Der Rechtsstaat muss sich schon ein wenig mehr Mühe 
machen.
Vermutlich sind der Tötung der Essener Café-Mitarbeiterin 
behördliche Fehler, vor allem Fehleinschätzungen vorausgegangen. Dass
jemand, der zweimal wegen Totschlags verurteilt wurde, dem 
Vergewaltigungen zur Last gelegt werden und der aus einer 
Untersuchungshaft getürmt ist, noch einmal vor Ablauf der 
Gefängnisstrafe auf freien Fuß kommen konnte, ist nicht nur dem 
juristischen Laien schwer zu vermitteln. Das empört, deprimiert und 
wird gegebenenfalls Konsequenzen nach sich ziehen. Grundsätzlich aber
darf sich der Umgang einer zivilisierten Gesellschaft mit 
Kapitalverbrechen nicht in simpler Rübe-ab-Rhetorik erschöpfen. Die 
Rückkehr selbst von Schwerkriminellen in einen normalen Alltag muss 
nach Verbüßung der Strafen möglich bleiben und gelingt sogar in 
vielen Fällen. Erfolgreiche Beispiele machen eben keine Schlagzeilen.
Die aufgeheizte politische Diskussion über das Strafrecht und die
wirklich lebenslängliche "Sicherungsverwahrung" hat dem Vernehmen 
nach bereits dazu geführt, dass Psychiater im Zweifel lieber die 
fortbestehende Gefährlichkeit eines Täters attestieren. Aus Furcht 
vor einer fatalen Fehleinschätzung. Der erschütternde Fall Ralf G. 
bietet auch die Gelegenheit zur Selbstvergewisserung des 
Rechtsstaates.

Pressekontakt:

Rückfragen bitte an:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Thomas Kloß
Telefon: (0201) 804-8975
zentralredaktion@waz.de

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