BERLINER MORGENPOST: Die Angst vor dem Sommerlager - Leitartikel
Berlin (ots)
Soll man sein Kind noch ins Ferienlager schicken? Mit der Kirchenjugend auf die Wanderhütte? Und wie gefährlich ist der Umkleideraum der Schwimmgruppe? Wo Kinder in Gruppen betreut werden, sind sie offenbar gefährdet. Das zeigt nun die Studie des Deutschen Jugendinstituts: In 82 Prozent der Heime, in jeder zweiten Schule gab es in den vergangenen drei Jahren Verdachtsfälle. Selbst für Eltern, die sich fest vornehmen, sich nicht von der Missbrauchshysterie (die es ja auch gibt) anstecken zu lassen, sind das äußerst beunruhigende Zahlen. Seit der Rektor des Canisius-Kollegs Anfang vergangenen Jahres den sexuellen Missbrauch aufdeckte, der in den 70er- und 80er-Jahren an der renommierten Berliner Schule stattfand, hat die Welt viel dazugelernt. Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist kein so seltenes Verbrechen, wie man gern glauben würde. Es kommt in Schulen, Internaten, Sport- und Kirchengruppen vor, mal sporadisch, mitunter aber gar systematisch. Und die vielen Missbrauchsfälle, die nach der mutigen Erklärung des Canisius-Kollegs aus allen Ecken des Landes gemeldet wurden, waren vor allem für Eltern erschreckend, legten sie doch den Verdacht nahe: Wo immer Kinder in Gruppen betreut werden, sind sie möglicherweise gefährdet, trotz und zum Teil gerade wegen der pädagogischen Fachkräfte. Nun zeigt die Studie des Jugendinstitutes, dass diese Angst keineswegs übertrieben ist. Eltern müssen misstrauisch sein - auch nach allem, was man über die Entstehungsbedingungen von sexueller Gewalt gegen Kinder weiß. Ob in Kirche, Schule oder Sportverein: Der "Tatort" für so ein Verbrechen ist stets eine geschlossene Gruppe mit hoher hierarchischer Stufung. Gegen die Hierarchie in Kindergruppen lässt sich nicht viel unternehmen. Ein stabiles Selbstbewusstsein mag einen gewissen Schutz vor Übergriffen darstellen, doch gegenüber einem Erwachsenen oder älteren Mitschülern fühlt sich ein Kind nun mal unterlegen. Es will es dem Großen recht machen - genau das wird von dem Täter ausgenutzt. Was man aber aufbrechen kann, aufbrechen muss, ist die geschlossene Struktur von Betreuungsgruppen, ihre Schweigementalität. Kinder müssen lernen, wie sie sich gegen Übergriffe wehren können - und dass es sie überhaupt gibt. Und wer mit Kindern arbeitet, muss selbstverständlich seine Arbeit infrage stellen und kontrollieren lassen. Aus hermetischen Gruppen müssen offene Gemeinschaften werden. Eltern müssen den Betreuungseinrichtungen, auf die sie ja im Alltag oft dringend angewiesen sind, vertrauen können. Mehr Schutz heißt nicht nur mehr Kontrolle, sondern auch mehr Sensibilität. Dass aus den Kirchen, den Internaten nichts nach außen drang, lag auch an der Umwelt, die zu flüchtig hinsah. So ist es völlig richtig, wenn Christine Bergmann, die Regierungsbeauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, nun die Fortbildung von Lehrern zur Prävention fordert. Und es ist überfällig, dass die katholische Kirche den Missbrauch wissenschaftlich aufarbeitet. Die Deutsche Bischofskonferenz ist bereit, endlich zuzulassen, was Bedingung aller Aufklärung ist: den schonungslosen, unvoreingenommenen Blick von außen.
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