Schwäbische Zeitung: Wer wegschaut, wird mitschuldig - Leitartikel
Leutkirch (ots)
Auf dem Grab der kleinen Maya, die am Pfingstsonntag in Aldingen verhungert und verdurstet ist, liegen Kränze, Schleifen, selbst verfasste Gedichte. Ein Teddy soll Trost spenden. Zeichen der Betroffenheit. Betroffen von diesem Fall sind nicht nur die Menschen, die Maya gekannt haben, ihr aber nicht helfen konnten. Betroffen ist eine ganze Gesellschaft, die die Kultur des Hinschauens und Reagierens verlernt hat.
Denn immer wieder stellt sich nach Fällen wie dem in Aldingen heraus, dass Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn und auch Behörden glaubten, die Familie und ihre Verhältnisse zu kennen. Es gab Kontakte, Besuche und auch Hilfsangebote. Alles ernst gemeint, jeder hatte ein gutes Gewissen. Doch am Ende stirbt ein Kind, weil in letzter Konsequenz dann doch niemand zuständig war, niemand Verantwortung übernahm und niemand die Warnsignale hörte. Gerichte werden entscheiden müssen, ob - und falls ja - wer welche Fehler begangen hat.
Der Fall zeigt auch, dass wichtige Mechanismen in der Gesellschaft nicht mehr richtig funktionieren. Von den sogenannten sozialen Netzwerken ganz zu schweigen. Mayas Mutter, die auch bei Facebook unterwegs war, mag dort Dutzende Freunde gehabt haben. Aber keiner konnte oder wollte ihr und ihren Kindern helfen. Daher ist es irreführend und gefährlich zugleich, von wahren Freundschaften, echtem Sozialverhalten oder belastbaren Netzwerken im Internet zu sprechen.
Gebt besser aufeinander acht: So könnte die Lehre aus dem Tod der kleinen Maya lauten. Es geht nicht darum, jemanden auszuspionieren, zu verraten oder - banal gesagt - zu petzen. Vielmehr braucht die Gesellschaft mehr sozialen Kitt. Wer ehrlich aufmerksam, aufrichtig am Gegenüber interessiert, kritisch begleitend in seiner Familie ist, am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis sein Umfeld pflegt und die Zivilcourage aufbringt, Missstände anzusprechen, der unternimmt viel, um neuerliche Dramen zu verhindern. Wer wegschaut, wird mitschuldig.
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