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Pressestimmen: "Die EU muss militärisch handlungsfähig werden" EU-Außenbeauftragter Javier Solana zu Irak, USA-EU, Türkei

Berlin (ots)

Nach dem Irak-Krieg sollen die Vereinten Nationen
die Kontrolle über das Öl und die wichtigsten politischen
Institutionen übernehmen. Das forderte der Außenbeauftragte der EU,
Javier Solana, im Interview mit dem Tagesspiegel (Mittwochausgabe).
Der Wiederaufbau des Landes solle ferner "in Zusammenarbeit mit der
EU geschehen". Solana bezeichnete die Spaltung der EU-Staaten in der
Irak-Frage auch als persönliche Niederlage. "Da sind wir gescheitert.
Und das schmerzt niemanden mehr als mich", sagte der Spanier. Mit
Kleinmut könne Europa diese Krise nicht überwinden. Vielmehr müsse
die Union sich "höhere Ziele setzen und mehr Ehrgeiz entwickeln". Er
warnte die EU aber davor, sich gegen die USA zu profilieren.
"Antiamerikanismus kann nicht der Kitt sein." Gegen Amerika "können
und wollen wir Europa nicht schaffen. Das würde nur zu weniger
Sicherheit führen." Solana sieht die EU auf dem Weg zu qualifizierten
Mehrheitsentscheidungen über die gemeinsame Außenpolitik. "Einige
Staaten streben das an. In der Außenpolitik kann das funktionieren.
In Fragen von Krieg oder Frieden nicht. Kein Land wird die
Entscheidung, wann es seine Soldaten in Todesgefahr schickt, anderen
überlassen." Daher halte er auch eine europäische Armee für "heute
schwer vorstellbar". Gleichzeitig begrüßte Solana den Vorstoß von
Frankreich, Belgien und Deutschland, ihre Zusammenarbeit in
Verteidigungsfragen zu intensivieren. Er hoffe, dass sich andere
Länder dieser Initiative anschließen würden. Jedes Mitgliedsland der
EU müsse mehr für die Verteidigung tun. "Das Ziel ist es, militärisch
handlungsfähig zu werden." Solana sagte, er gehe davon aus, dass sich
die Türkei "an unsere Absprache hält" und nicht in den Irak
einmarschiere. "Wenn die Türkei Absprachen bricht, müsste die Nato
ihre Bündniszusagen überprüfen." Zu möglichen Konsequenzen für den
EU-Beitritt in einem solchem Fall sagte er: "Die EU wird sich erst
wieder Ende 2004 mit der Beitrittsfrage befassen und dann alle
Aspekte berücksichtigen."
Interview im Wortlaut:
Mit welchem Wort lässt sich das Verhältnis Amerika-Europa am
besten beschreiben: Kooperation, Wettbewerb oder Konflikt?
Kooperation, ganz klar. Ein Beispiel: Wir erleben gerade
beträchtliche Spannungen, dennoch haben die EU und die Nato unter
Einschluss der USA soeben ein Abkommen geschlossen, wie EU-Truppen
demnächst Nato-Friedenstruppen auf dem Balkan ablösen.
Aber einige Staaten wollen Europa als Gegenmacht zu Amerika aufbauen…
Gegen Amerika können und wollen wir Europa nicht schaffen. Das
würde nur zu weniger Sicherheit führen. Antiamerikanismus kann nicht
der Kitt sein. Europa muss auf europäischen Werten aufbauen. Mit
Kleinmut wird Europa seine Krise nicht überwinden, wir müssen uns
höhere Ziele setzen und mehr Ehrgeiz entwickeln. Das ist die Lehre
aus allen Krisen, nicht zuletzt aus Europas Versagen im Krieg in
Jugoslawien. Erst nach dem Kosovo-Krieg wuchs die Bereitschaft zu
verstärkter Militärkooperation. Es waren dann gerade Frankreich und
Großbritannien, die darauf drängten.
Im Irak-Streit stellte sich die Frage umgekehrt: Zu wie viel
gemeinsamer EU-Politik sind die Nationalstaaten bereit, wenn sie
dafür Abstriche an ihrer Position machen müssen?
Europa hatte in den vier zentralen Fragen eine gemeinsame Haltung:
Erstens, Saddam entwaffnen. Zweitens, die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen verhindern. Drittens, Waffeninspektionen.
Viertens, das alles unter UN-Mandat. Die Resolution 1441 haben alle
unterstützt. Nur im letzten Punkt gab es keine Einigkeit: Wie viel
Zeit geben wir den Inspekteuren?
In den UN hat Europa nicht mit einer Stimme gesprochen.
Da sind wir gescheitert. Und das schmerzt niemanden mehr als mich,
denn darin sah ich meine Aufgabe. Aber die EU ist kein Staat, sie hat
keinen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Wenn es die EU überhaupt nicht
gäbe, hätte es dort genau den gleichen Streit gegeben. Wir haben die
Pflicht, uns um die außenpolitische Koordinierung zu bemühen. Eine
Erfolgsgarantie können wir nicht geben.
Sollen die EU-Staaten sagen: Im Zweifel ist eine gemeinsame EU-
Position wichtiger als der nationale Standpunkt?
In Politik übersetzt hieße das: Die gemeinsame EU-Außenpolitik
wird mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Einige Staaten streben
das an. In der Außenpolitik kann das funktionieren. In Fragen von
Krieg oder Frieden nicht. Kein Land wird die Entscheidung, wann es
seine Soldaten in Todesgefahr schickt, anderen überlassen.
Und wenn Europa eine eigene Armee hätte, über die das EU-Parlament
entscheidet?
Dafür müsste sich die EU zu Vereinigten Staaten von Europa
entwickeln. Für mich ist das heute schwer vorstellbar.
Wiederholt sich die Spaltung Europas, wenn die Türkei im Nordirak
einmarschiert?
Wenn neuer Dissens droht, müssen wir uns stärker bemühen, eine
gemeinsame Antwort zu finden. Ich gehe aber davon aus, dass die
Türkei sich an unsere Absprache hält und nichts dergleichen tut.
Und wenn doch, soll Brüssel dann den EU-Annäherungsprozess der
Türkei verlangsamen?
Das soll man nicht miteinander vermengen. Wenn die Türkei
Absprachen bricht, müsste die Nato ihre Bündniszusagen überprüfen.
Die EU wird sich erst wieder Ende 2004 mit der Beitrittsfrage
befassen und dann alle Aspekte berücksichtigen.
Nach dem Irak-Streit beim EU-Gipfel in Brüssel sahen Sie
frustriert und müde aus. Macht Ihnen Ihr Job noch Spaß?
Heute mehr als gestern. Komplizierte Probleme fordern mich heraus.
Was plant die EU für die Nachkriegszeit?
Die wichtigste Aufgabe ist die humanitäre. Daran arbeiten wir. Die
zweite Phase wird den politischen Wiederaufbau des Landes betreffen,
ähnlich wie in Afghanistan. Auch das haben wir in Zusammenarbeit mit
den UN getan. Im Moment sind wir vom diesem Zeitpunkt leider noch
weit entfernt.
Wer wird die Nachkriegsordnung im Irak bestimmen? Die UN oder die
USA?
Die UN. Das wäre auch im Interesse der USA, die nicht als Besatzer
wahrgenommen werden dürfen. Die UN sollten die Kontrolle über das Öl
und die wichtigsten politischen Institutionen übernehmen. Dafür sind
auch die Briten. Der Wiederaufbau sollte in Zusammenarbeit mit der EU
geschehen.
Drei Länder - Frankreich, Deutschland und Belgien - haben
inzwischen vorgeschlagen, die militärische Zusammenarbeit zu
intensivieren. Ist das ein Versuch, die EU zu spalten?
Die Lehre aus dem Krieg heißt: Jedes Mitgliedsland muss mehr für
die Verteidigung tun. Im übrigen verstehe ich den Vorschlag als
Einladung: Im Moment sind es drei, es können jederzeit mehr werden.
Hier wird nicht gespalten, sondern vorangeschritten.
Als politische Avantgarde?
Ja, in der Hoffnung, dass sich andere anschließen. Das Ziel ist
es, militärisch handlungsfähig zu werden.
Ist das ohne die Briten denkbar?
Nein. Aber die Briten haben immer wieder deutlich gemacht, dass
sie an einer Kooperation in Verteidigungsfragen interessiert sind.
Im Konvent haben sich die Briten bislang eher als Bremser
hervorgetan.
Ganz und gar nicht. Tony Blair ist der Europa-freundlichste
Premierminister, den man sich vorstellen kann. Auch wenn wir im
Moment in einigen Fragen unterschiedlicher Auffassung sind.
Eine merkwürdige Situation: Ein Krieg im Nahen Osten entscheidet
darüber, ob Großbritannien der Euro-Zone beitritt oder nicht?
Ich halte das nicht für entscheidend. Tony Blair hat sich längst
entschieden.
Er ja, aber nicht die Bevölkerung.
Und dafür ist ein Referendum notwendig. Ich bin davon überzeugt,
dass Blair die Zukunft Großbritanniens in der EU sieht.
Trotz aller Probleme ist Europa offenbar attraktiv. In Slowenien
gab es gerade eine große Mehrheit für den Beitritt. Wie können die
politischen Strukturen des vergrößerten Europas weiter verbessert
werden?
Die Vereinigung Europas wird den Kontinent zum Besseren verändern,
seine Bevölkerung wird dann doppelt so groß sein wie die der USA,
viermal so groß wie die Japans. Das schon erwähnte Beispiel Balkan
zeigt, wie gut dieses Europa funktioniert: Im Dezember 1999 haben wir
beschlossen, bis 2003 über eigene militärische Einsatzkräfte zu
verfügen. Nächste Woche wird eine EU-Truppe unter der EU-Flagge in
Mazedonien das Kommando übernehmen. Wenn der Irak nicht die
Nachrichten beherrschen würde, wäre das eine Titelgeschichte!
Sven Lemkemeyer
Der Tagesspiegel
Politikredaktion
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