Börsen-Zeitung: Neue Börse, Leitartikel von Christopher Kalbhenn über das neue Zeitalter für die Deutsche Börse AG
Frankfurt (ots)
Neue Börse ist der Name jenes modernen Gebäudes im Frankfurter Stadtteil Hausen, in das die Verwaltung der Deutschen Börse vor rund fünf Jahren eingezogen ist. Der Name versinnbildlicht den Übergang von einer verstaubt und provinziell wirkenden Börse zu einem dynamischen, in seiner Branche weltweit führenden und Maßstäbe setzenden Unternehmen, der unter der Leitung von Werner Seifert vollzogen wurde. Seine Absetzung als Vorstandsvorsitzender des Unternehmens sorgt nun dafür, dass der Name Programm bleibt wenn auch anders als von seinem Urheber gedacht.
Das neue Zeitalter, in das die Deutsche Börse durch den Austausch einer so stark prägenden Persönlichkeit wie Seifert eintritt, ist vom Markt mit steigendem Aktienkurs begrüßt worden. Dass der Marktwert der Deutschen Börse gestern ohne den 55-Jährigen als Vorstandsvorsitzenden erstmals die Schwelle von 7 Mrd. Euro erreichte, wirkt ein wenig ungerecht wie auch die sowohl von Hedge- als auch von traditionellen Fonds geforderte Absetzung. Schließlich ist das Ergebnis seines Wirkens nicht ein in Grund und Boden gewirtschaftetes Unternehmen, sondern ein hochprofitabler, leistungsstarker und bereits vor den kurstreibenden Ereignissen der letzten Monate stark im Wert gestiegener Apparat. Auch die Verdienste Seiferts um die Modernisierung des Finanzplatzes Deutschland spiegeln sich in seiner Entmachtung nicht so recht wider.
Allerdings können die Leistungen des Schweizers nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sturz selbst verschuldet und auch die Folge von Inkonsequenz ist. Seifert und sein Aufsichtsratsvorsitzender, Rolf-E. Breuer, hätten engeren Kontakt zu den Aktionären pflegen und auf die kritischen Anteilseigner früher zugehen müssen, als sie es letztlich zu spät getan haben. Seifert hat bewusst eine Ausweitung des Anteils angelsächsischer Investoren in seinem Unternehmen angestrebt und muss gewusst haben, dass dies ein ganz anderer Menschenschlag ist als die strategischen Altaktionäre, die nicht einmal mehr 3% an der Gesellschaft halten. Seiferts Widersacher und Managing Partner des Hedgefonds-Betreibers TCI, Christopher Hohn, brachte die Widersprüche kürzlich auf den Punkt. Dass die Hedgefonds mit ihren hohen Handelsaktivitäten den Erlös der Deutschen Börse antreiben, sei erwünscht, dass sie ihre Rechte als ihre Aktionäre wahrnehmen jedoch nicht.
Entscheidend ist jedoch, dass der Führungswechsel zwar zunächst ein Vakuum hinterlässt, letztlich aber wie jeder Neuanfang auch Chancen eröffnet. Zwar wird der Nachfolger ein schweres Erbe antreten und viele Probleme zu lösen haben. In mancherlei Hinsicht wird ihm Letzteres jedoch leichter fallen als Seifert. Das gilt z.B. für die Konsolidierung der Börsenlandschaft. Von den diversen Rückschlägen, die Seifert auf diesem Gebiet erlitten hat, wird der neue Vorstandsvorsitzende völlig unbelastet sein. Das Gleiche gilt für die Intimfeindschaft zwischen Seifert und dem Chief Executive des Börsenbündnisses Euronext, Jean François Théodore. Seiferts Nachfolger wird in der Lage sein, mit Théodore wieder ins Gespräch zu kommen. Das muss nicht gleich den großen Allianz- oder Fusionswurf zum Ziel haben, der bei einem gemeinsamen Marktanteil am europäischen börslichen Terminmarkt von nahezu 100% auf kartellrechtliche Probleme stoßen würde. Eine konstruktive Atmosphäre eröffnet aber die Perspektive, zumindest über Kooperationsprojekte Verbesserungen für die Börsennutzer und damit die Kunden zu erreichen.
An dieser Stelle wird der neue Vorstandsvorsitzende einiges zu tun haben. Gerade im Inland haben sich Kunden und Nutzer zuletzt stiefmütterlich behandelt gefühlt. Das galt sowohl für die Hofierung Londons als auch für die Bedienung der angelsächsischen Aktionäre mit der Auskehrung von Barmitteln. Kurzum: Der Vorstandsvorsitzende wird die schwierige Aufgabe zu bewältigen haben, die Interessen von Unternehmen, Aktionären und Kunden wieder in eine vernünftige und nachhaltig funktionierende Balance zu bringen. Die Möglichkeiten, die ein neuer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Börse haben wird, hängen jedoch zunächst vom Verhalten der Aktionäre ab. Diese müssen nun zu erkennen geben, in welchem Umfang sie in Zukunft in das Management einzugreifen gedenken. Auch eventuelle unternehmensstrategische Zielsetzungen sollten bald auf den Tisch.
Dort sind auch Risiken verborgen, die nicht nur die Neue Börse betreffen, sondern den gesamten Finanzplatz. Das zeigen die Gerüchte, dass Aktionäre den Verkauf bzw. die Abspaltung von Sparten wie Eurex und Clearstream betreiben könnten, um dadurch eine noch höhere Auskehrung zu ermöglichen. Absolute Priorität hat nun, dass Ruhe in das Unternehmen gebracht wird. Dazu müssen aber auch die Aktionäre beitragen, die den Führungswechsel herbeigeführt haben. TCI hat erklärt, ein langfristig orientierter Investor und an einer starken Deutschen Börse interessiert zu sein. In dem aktuellen Vakuum an einem Tag für die Fusion mit Euronext zu plädieren, um einen Tag später zu erklären, dass man auch eventuell ein modifiziertes Gebot für die Londoner Börse unterstützen könnte, ist wenig sinnvoll.
(Börsen-Zeitung, 11.5.2005)
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