Weser-Kurier: Zum Prozess gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff schreibt der Bremer WESER-KURIER:
Bremen (ots)
Der Vorwürfe oder Behauptungen, der Aussagen oder Ausreden sind genug gewechselt, nun sieht das Land auch Taten im juristischen Sinne. Christian Wulff steht vor Gericht. Ein Mordsspektakel angesichts der Anklage wegen Vorteilsnahme, die sich um eine dreistellige Summe dreht. Nun ja - Ehre, wem Ehre gebührt. Das gilt eben nicht nur für den gleichnamigen Sold in Höhe von rund 200<ET>000 Euro, den Wulff pro Jahr weiterhin bezieht, sondern auch für den Fall, dass sich ein ehemaliger Bundespräsident vor Gericht verantworten muss. Indes gibt es das Gericht nicht, vor dem Wulff eigentlich der Prozess gemacht werden müsste. Das wäre die Instanz, der sich auch Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst, der ehemalige Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und viele andere stellen müssten: eine Art moralisches Tribunal, das Taten nicht nach Paragrafen und Schaden nicht nach Geld misst. Sondern dessen Grundlagen ungeschriebene Gesetze sind, eine gemeinsame Sittlichkeit, die die Gesellschaft offenbar (noch) in sich trägt. Und man könnte kühn behaupten, dass eine solche Institution mehr fehlt denn je, dass - weil sie fehlt - immer schamloser gegen die guten Sitten verstoßen wird, weshalb sie mithin mehr fehlt denn je. Und so passiert meist nix - noch jeder Sturm der Entrüstung hat sich wieder gelegt, und nicht jeder wurde davon wie Wulff vom Thron gepustet. Die guten Sitten sind ein Fundament des friedlichen und gerechten Zusammenlebens. Was sich gehört und was nicht, muss von Generation zu Generation weitergegeben werden. Misslingt das auf Dauer, müssten ungeschriebene Gesetze tatsächlich geschrieben werden, ist das Gemeinwesen am Ende. Und so muss sich einjeder von seinem Gewissen leiten lassen. Wulff muss sich selbst Kläger, Angeklagter, Verteidiger und Richter sein - am Abend, wenn er vor dem Spiegel steht. Vermutlich hat er bei diesen inneren Dialogen zu viel Milde walten lassen. Daran kann auch das Landgericht in Hannover nichts ändern, einerlei, zu welchem Urteil es kommen mag.
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