Stuttgarter Zeitung: Resignation statt Revolution
Leitartikel zu Protesten in Frankreich
Stuttgart (ots)
Die Franzosen wehren sich. Sie gehen auf die Straße. Kirchlich-konservative Bürger rufen zu weiteren Massenkundgebungen auf, um das kürzlich verabschiedete Gesetz zur Einführung der Homo-Ehe doch noch zu kippen. Gewerkschaften, Links- und Rechtspopulisten wollen die Regierung Anfang Mai mit Großkundgebungen an ihre sozialen Pflichten erinnern. Nach Veränderung sieht das aus, nach Revolution gar.
Doch das erzürnte Volk will nicht verändern, es will bewahren. Es klammert sich an das traditionelle Familienbild von "Papa, Mama, Kind", als gäbe es nicht immer mehr Patchworkfamilien und Alleinerziehende. Es versucht, in einer sich dramatisch verschärfenden Wirtschaftskrise vom Besitzstand zu retten, was zu retten ist - und gibt gerade dadurch in einer sich rapide wandelnden Welt immer mehr davon preis. Eine Revolution braucht Träume, Visionen, Projekte. Die Franzosen glauben aber nicht an eine bessere Zukunft. Sie verdammen den Kapitalismus. Sie erwarten jedoch auch nichts Gutes vom Sozialismus. Laut Umfragen sind sie das pessimistischste Volk Europas.
Während allerdings Italien oder auch Spanien unter dem Druck der Schuldenkrise Strukturreformen eingeleitet haben, tritt Frankreich weitgehend auf der Stelle. Der Staatschef François Hollande schweigt, wartet ab, hofft auf bessere Zeiten, sprich: einen Wahlerfolg des Sozialdemokraten Peer Steinbrück. Mit ihm will er ein europäisches Wachstumsprogramm durchsetzen, das diesen Namen auch verdient, aber Frankreich überfällige Strukturreformen erspart. Doch Warten kann sich das Land nicht leisten.
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