Deutschland hofft auf ein Sommermärchen 2.0
Köln (ots)
- Atradius: "Wirtschaftsstandort in ausgewachsenem Formtief."
- Branchen unter Druck, mehr Insolvenzen und Liquiditätsprobleme
Wenn am 14. Juni die UEFA-Europameisterschaft 2024 beginnt, hofft ganz Fußball-Deutschland auf ein Sommermärchen 2.0. Auch die heimische Wirtschaft hofft - darauf, dass die EM die lahmende Konjunktur ankurbelt. "Während unsere Nationalmannschaft nach der zumeist erfolgreichen Vorbereitung fit für die Europameisterschaft zu sein scheint, steckt der Wirtschaftsstandort Deutschland in einem ausgewachsenen Formtief", sagt Thomas Langen, Senior Regional Director Deutschland, Mittel- und Osteuropa von Atradius. Tatsächlich spricht nicht viel für eine kurzfristige Rückkehr auf den Erfolgspfad.
Deutschland steckt in der Krise. Laut Oxford Economics wird das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr erneut stagnieren, nach einem Nullwachstum im Jahr 2023. Für 2025 wird ein bescheidener Aufschwung von 1,3 Prozent erwartet. Die Exporte werden 2024 nur um 0,3 Prozent wachsen, nachdem sie 2023 um 1,3 Prozent sanken. "Große internationale Turniere können den Volkswirtschaften einen dringend benötigten Auftrieb geben, aber derzeit ist die Stimmung trotz der anstehenden EURO 2024 eher gedämpft", betont Thomas Langen. Laut einer Umfrage im Gastgewerbe erwarten nur 16 Prozent der Befragten, dass sich das Turnier positiv auf Buchungen oder Umsatz auswirken werde.
Ähnlich sieht es bei Deutschlands Industrieunternehmen aus. Auch wenn sie Licht am Ende des Tunnels sehen, so ist es doch schwach und noch weit entfernt. Atradius geht davon aus, dass die Industrieproduktion in diesem Jahr um etwa ein Prozent zurückgehen wird, bevor sie sich in 2025 auf drei Prozent Wachstum erholt. Die Unternehmensinvestitionen haben wahrscheinlich ihren Tiefpunkt erreicht und könnten 2024 weiter ansteigen, aber mit 0,4 Prozent blieben sie im historischen Vergleich schwach. Mangelnde Investitionen könnten die deutschen Unternehmen weniger effizient und wettbewerbsfähig machen, wenn die Weltwirtschaft 2025 und darüber hinaus expandiert.
Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Industrien beeinträchtigt
Die Energiekrise hat sich zwar entspannt, aber die Gaspreise dürften sich auf einem höheren Niveau als vor der Pandemie einpendeln und die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Industrien beeinträchtigen. Die Verbraucherausgaben dürften 2024 wieder ansteigen, wenngleich nicht zu erwarten sei, dass sie bis zum Ende des Jahres das Niveau vor der Pandemie erreichen. "Starke Lohnzuwächse werden den Verbrauchern mehr Geld zum Ausgeben geben, aber die trübe Stimmung könnte dazu führen, dass viele ihre Ersparnisse aufstocken, anstatt Geld auszugeben", schätzt Thomas Langen.
Vor diesem Hintergrund sehen sich zahlreiche Unternehmen mit Zahlungsverzögerungen konfrontiert. Eine Welle weltweiter Insolvenzen treffe das exportabhängige verarbeitende Gewerbe. Gleichzeitig kämpften die Unternehmen mit der hohen Inflation und hohen Zinssätzen. Daher ist es keine Überraschung, dass im jüngsten Atradius-Barometer zur Zahlungsmoral rund die Hälfte der befragten deutschen Unternehmen angaben, dass sie Zahlungsprobleme mit ihren Kunden haben. Thomas Langen: "Alles in allem erwarten wir, dass sich die finanzielle Situation deutscher Unternehmen 2024 weiter verschlechtern wird."
Deutsche Automobilindustrie unter besonderem Druck
Besonders unter Druck stehen aktuell die Automobilhersteller und -zulieferer. Die weltweite Nachfrage schwächt sich ab, die Umstellung auf Hybrid- und Elektrofahrzeuge gewinnt an Fahrt. Zahlen von Oxford Economics zeigen, dass das Wachstum der deutschen Automobilproduktion von 12,8 Prozent im Jahr 2023 auf 3,0 Prozent im Jahr 2024 und 1,3 Prozent im Jahr 2025 zurückgeht.
Das treffe die Hersteller erst mit der Zeit, aber kurzfristig stelle der Produktionsrückgang die Automobilzulieferer vor Herausforderungen. "In den letzten Monaten haben Insolvenzen und Turbulenzen bei Tier-2- und Tier-3-Zulieferern zugenommen", sagt Jens Stobbe, Manager Atradius Risk Services Deutschland, und ergänzt: "Jüngste Berichte zahlreicher Zulieferer über Werksschließungen, Stellenabbau und Kostensenkungsprogramme lassen vermuten, dass die Krise nun auch diese Unternehmen voll erfasst hat. Da wir für 2024 einen Absatzrückgang erwarten, dürfte auch die Zahl der Zuliefererschäden weiter steigen." Längerfristig müssten die deutschen Automobilhersteller erheblich investieren, um mit den chinesischen Konkurrenten auf dem aufstrebenden Markt für Elektrofahrzeuge Schritt zu halten. Jens Stobbe: "Wir erwarten, dass in naher Zukunft mehr erschwingliche Elektrofahrzeuge aus Fernost auf die europäischen Märkte kommen werden."
Chemieproduzenten sind robust
Deutschland ist der mit Abstand größte Chemieproduzent in Europa. Als energieintensiver Industriezweig leidet die Produktion jedoch weiter unter den massiven Gaspreiserhöhungen von 2022. Die Chemieproduktion in Deutschland ging 2022 um zwölf Prozent zurück, gefolgt von einem Rückgang um neun Prozent im Jahr 2023. Die gute Nachricht sei, so Thomas Langen, dass die Produktion 2024 voraussichtlich um 1,6 Prozent und 2025 um 1,1 Prozent leicht ansteigen werde. "Die Branche ist robust und verfügt über eine starke Kapitalisierung, einen guten Zugang zu externer Finanzierung und ein ausgewogenes Schuldenprofil."
Längerfristige Sorgen bleiben jedoch bestehen. Die Gaspreise werden vermutlich auf unbestimmte Zeit über dem Vorkrisenniveau bleiben, da Europa russisches Gas durch weltweite Importe von Flüssigerdgas ersetzt. Die europäischen Vorschriften werden weiter verschärft. Diese Faktoren beeinträchtigen die Fähigkeit der deutschen Produzenten, mit amerikanischen und asiatischen Konkurrenten zu konkurrieren. "Unternehmen, die nicht in der Lage sind, die gestiegenen Produktionskosten an ihre Kunden weiterzugeben, könnten Probleme mit dem Cashflow bekommen und damit ein Kreditrisiko für ihre Lieferanten darstellen", sagt Olaf Gierlichs-Steffens, Senior Underwriter bei Atradius Risk Services Deutschland. "Das größte Risiko ist die Möglichkeit, dass die Hersteller ihre Produktion in Länder verlagern, in denen die Energiekosten niedriger sind.
Geringe Nachfrage behindert die Erholung des Metallsektors
Die Zahlen von Oxford Economics zeichnen auch ein düsteres Bild des deutschen Metall- und Stahlsektors: Die Produktion von Basismetallen wird bis 2024 voraussichtlich um 3,2 Prozent sinken, nachdem sie im vergangenen Jahr um 1,7 Prozent zurückgegangen war. Die Branche leidet unter der geringen Nachfrage der Kunden. Die Auswirkungen des stagnierenden Wirtschaftswachstums ziehen sich durch die gesamte Lieferkette und beeinträchtigen das Geschäft auf allen Ebenen. Die Energiekrise hat auch die Metallerzeuger getroffen, die Kosten liegen weiterhin über dem historischen Niveau. Die Preise stehen unter Druck, die Nachfrage nach Lagerbeständen lässt nach, dünnere Gewinnspannen verringern die Einnahmen. Atradius erwartet daher für 2024 steigende Zahlungsverzögerungen und mehr Insolvenzen. "Deutschland wird auch in nachhaltige Metallproduktionskapazitäten investieren müssen, um die bestehende Produktion zu ersetzen", sagt Michael Prüfer, Manager Risk Services bei Atradius Deutschland. "Trotz staatlicher Unterstützung stellen die Investitionen eine große Herausforderung für die Branche dar."
Insolvenzen im Maschinenbau
Die Maschinenbauproduktion wird laut Oxford Economics 2024 um 3,2 Prozent schrumpfen. Für 2025 wird ein Aufschwung von 1,6 Prozent prognostiziert. Mit Ausnahme des Verteidigungssektors sind die Auftragseingänge von Kunden in allen Bereichen rückläufig. Die Zahl der Insolvenzen ist 2023 gestiegen und werde 2024 wahrscheinlich weiter wachsen. "Die Situation verschärft sich durch die zunehmende Zahl von Zahlungsausfällen bei Lieferungen an deutsche Maschinenbauer", sagt Jens Stobbe und fügt hinzu: "Sie liegen derzeit 40 Prozent höher als im Vorjahr und deutlich über dem Niveau vor Covid. Unsere Zahlen deuten darauf hin, dass die Unternehmensinsolvenzen im Maschinenbau spürbar zunehmen werden."
Deutschland im Abseits - aber noch im Spiel
So wie die deutsche Nationalmannschaft nach den Rückschlägen bei der Weltmeisterschaft in Katar 2022 und der pan-europäischen EM im Jahr 2020 wieder den Weg in die Erfolgsspur zurückgefunden zu haben scheint, herrscht auf bei der deutschen Industrie das Prinzip Hoffnung. "Zahlungsverzug und Liquiditätsprobleme nehmen tendenziell zu. Aber es ist nicht alles verloren. Die deutsche Industrie hat zwar zu kämpfen, ist aber nach wie vor sehr widerstandsfähig und gut geführt", sagt Thomas Langen und ergänzt: "Die Wirtschaftslenker werden auf das Jahr 2025 blicken und auf Anzeichen einer Rückkehr zur alten Form hoffen."
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