Berliner Morgenpost: Warum heißt es immer noch Gastarbeiter? - Kommentar
Berlin (ots)
"Multikulti ist keine Lösung", hat Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mal wieder festgestellt. Das ist eine interessante These, vor allem, wenn man sich das Spitzenpersonal der CDU anschaut. Der Kanzleramtsminister heißt Thomas de Maizière, der Generalsekretär Ronald Pofalla und der Mann, der in Niedersachsen die tägliche Arbeit verrichtet hinter Christian Wulff, hört auf den schönen deutschen Namen David McAllister. Der populärste Politiker in Hessen wird Tarek Al-Wazir gerufen, die unpopulärste Politikerin Andrea Ypsilanti. SPD-Größen tragen exotische Namen wie Zypries, Wieczorek-Zeul oder Wowereit, was aus dem Litauischen stammt und "Eichhörnchen" bedeutet. Multikulti ist deutsche Realität und Deutschland ein Einwanderungsland, so wie fast jedes Land der Welt. Barack Obama hat übrigens kenianische Wurzeln. Eine aktuelle Studie des Berlin-Instituts kommt zu dem Ergebnis, dass Einwanderer aus der Türkei die am wenigsten integrierten Neubürger sind. Die Erkenntnis ist nicht überraschend, spannend allerdings sind die Erklärungsmuster. Bei allen Vorwürfen, die man türkischstämmigen Mitbürgern machen kann und darf, bleibt festzuhalten, dass Deutschland sich in den vergangenen 40 Jahren nicht gerade als modernes Gastgeberland präsentiert hat. Bis heute ist von Gastarbeitern die Rede. Wer aber zu Gast ist, der geht bald wieder. Um den muss man sich nicht kümmern. Viele Einwanderer sind aber geblieben. Hinzu kommt, dass gerade Billiglohnkräfte nicht aus modernen Metropolen wie Istanbul oder Ankara stammten, sondern aus dem anatolischen Mittelalter direkt ins gelobte Land fielen. Die kulturellen, auch religiösen Gräben sind bis heute breit und tief. Das deutsche Bildungssystem hat diese Kluft nicht geschlossen. Die Folge: Es entstanden eigene Wohnviertel, in denen türkisch gesprochen wurde. Deutschland, das war egal, womöglich sogar feindselig. Bis heute werden deutschstämmige Schulkinder von ihren Eltern gefragt, "wie viele Türken" denn in der Klasse seien. Dabei sind die meisten von ihnen längst Deutsche. Genau hier liegt das Problem: Wer türkische Wurzeln hat, wird immerzu erinnert, dass er kein vollwertiger Deutscher sei, egal, wie viel Steuern er zahlt. Der Effekt für die dritte Generation ist fatal. Denn Abgelehnte reagieren mit Ablehnung: Wenn ihr uns nicht wollt, wollen wir euch auch nicht. So bekommen schlechte Noten, Kriminalität, Macker-Gehabe gleichsam einen Widerstands-Habitus, gelten als stolzer Protest gegen alles Deutsche. Fakt ist: Nicht nur Arbeiterfamilien, sondern auch die türkische Elite fühlt sich hierzulande oft unwohl. Immer mehr gut Ausgebildete, und davon gibt es eine ganze Reihe, verlassen Deutschland und kehren zurück in die Heimat ihrer Großeltern. Dort zählen sie was, dort bekommen sie den lebenswichtigsten Treibstoff: Anerkennung.
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