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Berliner Morgenpost: Unbedachte Worte und ihe Nebenwirkungen - Kommentar

Berlin (ots)

Sicherlich kann und darf man über das Urteil
diskutieren. Ist es verhältnismäßig, eine Kassiererin nach mehr als 
30 Jahren im Unternehmen zu kündigen, wenn sie Pfandbons im Wert von 
1,30 Euro unterschlägt? Das Berliner Landesarbeitsgericht folgte der 
Argumentation des Arbeitgebers, der das Vertrauensverhältnis 
nachhaltig gestört sah. Wie gesagt, man kann darüber diskutieren. 
Sachlich.
Aber in der aktuellen Debatte über das Urteil hat sich der 
wahrscheinliche Spitzenkandidat der Berliner Sozialdemokraten für die
Bundestagswahl, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, völlig in 
der Wortwahl vergriffen. Thierse hatte das Urteil gegen die 
Supermarktkassiererin "barbarisch" und "asozial" genannt. Als sei die
Entscheidung der Richter nicht aufgrund von juristischen Argumenten 
und einer Abwägung des Für und Wider gefällt worden. Damit hat er 
einen schweren Fehler begangen.
Dabei ist er als Philosoph und Kulturwissenschaftler ein Mann des 
Wortes, der auch aufgrund seiner langjährigen politischen Erfahrung 
um den Wert der Sprache weiß. Thierse hat allerdings Begriffe 
gewählt, mit denen er nicht nur das Urteil kritisiert, sondern 
letztlich die Richter beschimpft. Deswegen schaltete sich gestern die
Präsidentin des Berliner Landesarbeitsgerichts ein und stellte sich 
schützend vor ihre Richterkollegen.
Nun ist Thierse auch noch der Vizepräsident des Deutschen Bundestags,
was die Angelegenheit eigentlich noch schlimmer macht. Er müsste auch
aufgrund seines Amtes vorsichtig mit Kritik an Richtern sein. Denn 
die richterliche Unabhängigkeit und die Gewaltenteilung gehören zu 
den höchsten Gütern des Rechtsstaats.
Aber wir leben in Zeiten, in denen es modern geworden ist, 
Einzelfälle zu einer grundsätzlichen Kritik an dem 
Gesellschaftssystem zu machen. Hier die armen ausgebeuteten Arbeiter,
dort die bösen Kapitalisten, denen die Rendite über alles geht. Die 
Linkspartei macht vor, wie billiger Populismus häufig funktioniert.
Ja, keine Frage, es gab auch Auswüchse in der Finanzwelt. Hier sollte
die Politik eingreifen. Wer allerdings, wie der CSU-Parteichef Horst 
Seehofer, auf dem politischen Aschermittwoch in bierseliger Stimmung 
die Kassiererin gegen die Banker ausspielt, agiert mit großem Risiko.
Denn die Milliarden Euro, die der Staat für marode Banken gibt, 
sollen das System stützen, nicht die Banker.
Ein solches populistisches Agieren einiger Politiker ist in einer 
Wirtschaftskrise wie dieser gefährlich. Dass Thierse gestern Abend 
seine Formulierung als "unverhältnismäßige Reaktion auf ein 
unverhältnismäßiges Urteil" relativierte, nimmt seine Worte nicht 
mehr aus der Welt. Äußerungen wie die von Seehofer und Thierse können
ungeahnte Nebenwirkungen haben, deren Folgen beide sicherlich nicht 
beabsichtigten. Sie können ein Klima erzeugen, in der die 
freiheitlich-demokratische Grundordnung samt ihrer liberalen 
Wirtschaftsordnung in Frage gestellt wird.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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