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Berliner Morgenpost: Die üblichen Erklärungen helfen nicht mehr weiter - Kommentar

Berlin (ots)

Noch bevor jemand wusste, was genau geschehen war,
wurden die Erklärungsmuster für den Amoklauf von Winnenden bereits 
geliefert. Erleichtert vermerkten Politiker, dass natürlich 
Computer-Ballereien im Spiel gewesen seien. Voreilig erklärte 
Baden-Württembergs Innenminister Rech den Täter zum normalen jungen 
Mann. Die Schützen-Kritiker machten das angeblich zu lasche 
Waffenrecht verantwortlich. Und wieder andere wussten zu berichten, 
dass ein Unternehmersohn wohlstandsverwahrlost sein müsse. Wieder 
einmal funktionierten die Reflexe.
Fakt ist: Unzählige Kinder aus betuchtem Hause wachsen normal auf, 
Tausende Kinder, auch Mädchen, spielen Counterstrike, und die 
Mehrzahl der Schützen geht halbwegs umsichtig mit den Waffen um. Aber
nicht jeder Junge, der regelmäßig zur Schule geht, ist auch ein 
harmloser Zeitgenosse.
In allen Kulturen, in allen Epochen der Menschheit galt der 
Heranwachsende als Problemfall. Junge Männer sind körperlich 
entwickelt, doch die Psyche wackelt. Sie nabeln sich von der Familie 
ab, ohne eine Identität zu spüren. Sie ahnen den Druck von Anpassung 
und Aufstieg, aber sie träumen von Rebellion und Ausbruch. TV-Serien 
wie "Jackass" oder "Fist of Zen" illustrieren, wie schmerzfrei, 
brutal und gefühlsschwankend junge Männer sein können. Man kann sie 
zu sportlichen Höchstleistungen animieren, aber ebenso zum 
Komatrinken. Heranwachsende neigen überproportional zu Drogenkonsum, 
Depression, Kriminalität und Selbstmordgedanken. Den Zugang zu 
scharfen Waffen sollte man ihnen also absolut unmöglich machen.
Viele Kulturen schufen ihre Rituale, junge Männer zu domestizieren. 
Urvölker schickten ihre Knaben in den Wald, wo sie Einsamkeit und 
Angst, den Wert einer Gruppe und Verantwortung lernen sollten. 
Handwerker kennen die bisweilen quälenden Lehrjahre, die nicht nur 
Fachwissen bringen, sondern auch Unterordnung erzwingen sollten.
Außer Konfirmation und Führerscheinprüfung hat unsere 
überzivilisierte Gesellschaft kaum mehr Initiationsrituale, die 
jungmännliche Wutbomben entschärfen. Der Bedarf nach physischen 
Grenzerfahrungen, nach Lob und Beachtung wird mit Schrott vom 
Elektronik-Discounter beantwortet. So kapseln sich einige labilere 
Jungen ab, versteigen sich in Killer-Phantasien und suchen im 
Internet nach Drehbüchern für brutalstmöglichen Ruhm. Dass die 
Weltpresse in Winnenden einfällt und ihm zumindest posthum 
Aufmerksamkeit verschafft, mag vom Täter durchaus kalkuliert worden 
sein.
Sozialpädagogische Konzepte bieten einige Auswege - eine 
freundschaftliche Rauferei, ein Nachmittag mit dem Vater auf dem 
Bolzplatz sind allerdings auch schon hilfreich. Fakt ist: Unser 
Umgang mit den ebenso liebenswerten wie problematischen 
Heranwachsenden entscheidet ganz erheblich darüber mit, ob sie den 
Sprung in die Erwachsenenwelt heil überstehen. Oder ob sie wegdriften
in furchtbare Fantasiewelten. Und deshalb geht er uns alle an.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell

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